Anne Boleyn Medaille

Das Aussehen von Anne Boleyn

Ist eine Medaille der Schlüssel?

Anne Boleyn hat als historische Figur eine solche Ikonizität erhalten, dass wir ihr Bild sofort wiedererkennen: Eine dunkelhaarige Frau mit einer französischen Haube, in schwarzem Kleid, oftmals mit einem goldenen »B« an einer Perlenkette. Ihr Portrait kommt in vielen Facetten daher. Aber: Keines dieser Gemälde stammt nachweislich aus ihren Lebzeiten, für keines hat sie sicher Modell gestanden. Das Rätsel um das Gesicht von Anne Boleyn dauert also an und fasziniert uns bis heute. Aber es gibt ein kleines, unscheinbares Artefakt, das uns zu ihr führt: eine Medaille.

1. Wie sah Anne Boleyn eigentlich aus?

Grundsätzlich könnte man sagen, dass das Aussehen einer Person, die vor fast 500 Jahren gelebt hat, ziemlich irrelevant ist. Ob sie braune oder blaue Augen, helle oder dunkle, eine schiefe oder wohlgeformte Nase hatte, spielt keine Rolle für die Bewertung ihres Charakters, ihres politischen Einflusses oder der historischen Bedeutsamkeit. Aber eben nur grundsätzlich. Denn erstens fragt man sich angesichts der Seifenopernhaftigkeit ihrer Geschichte zwangsläufig, was genau an ihr so betörend gewesen sein kann, dass Heinrich VIII. ihr dermaßen verfallen ist. Zweitens sind die spärlichen Aussagen über sie sehr widersprüchlich, und drittens halte ich es einfach für menschlich, dass wir zu einer Person auch ein Gesicht haben wollen.

Warum aber besitzen wir kein (unstrittiges) Portrait von Anne, dieser Schlüsselfigur der Tudorzeit, in welcher persönliche Darstellungen mit individuellen Zügen bereits etabliert waren? Der Grund ist Annes rapider Sturz. Sie fiel einer regelrechten damnatio memorae zum Opfer; viele ihrer Darstellungen wurden hastig zerstört. Heinrich ließ ihre Präsenz zumindest aus seinem Umfeld relativ gründlich tilgen. Mit Sicherheit aber blieben im Verborgenen Bilder von ihr bewahrt. Manche werden im Lauf der Zeit zerstört worden sein, andere übermalt (Leinwände waren teuer) und wenn wir Glück haben, schlummert noch irgendwo ein unentdecktes, echtes Bild aus den Jahren 1533-1536. Von solchen verschollenen Originalen stammen wohl viele der Bilder ab, die während der Regentschaft von Annes Tochter, Elizabeth I., angefertigt wurden.

Was sagen die Zeitgenossen?

Abseits der Bilder haben wir auch eine Handvoll zeitgenössischer Beschreibungen ihres Aussehens, von Menschen, die Anne gekannt haben oder nicht allzu lange nach ihrem Tod Erinnerungen aufschrieben. Das Problem ist, dass wir keine unvoreingenommenen Berichte haben, weder in die positive noch die negative Richtung. Vor ihrer Beziehung zum König war Anne zu unbedeutend, und danach polarisierte sie zwangsläufig.

Einige Aussagen können wir klar ins Reich der Fantasie verweisen, da sie heillos übertrieben sind, etwa jene von Nicholas Sanders: »Anne Boleyn was rather tall of statue, with black hair and an oval face of sallow complexion, as if troubled with jaundice. She had a projecting tooth under the upper lip, and on her right hand, six fingers. There was a large wen under her chin […]. She was handsome to look at, with a pretty mouth.«1

Abgesehen davon, dass hier ganz eindeutig die Stereotype des damaligen Hexenbildes wiedergegeben werden, dürfen wir ernsthaft anzweifeln, dass Heinrich sich eine Frau mit solchen Attributen als Mutter seiner Kinder ausgesucht hätte (etwas mehr dazu gibt es hier).

Realistischer erscheinen die Beschreibungen des Klerikes John Barlow und des venezianischen Botschafters Francesco Sanuto. Barlow, der Anne gut kannte, nannte sie »eloquent and gracious, and reasonably good looking«2, und Sanuto sprach von ihr als »[n]ot one of the handsomest women in the world; she is of middling stature, swarthy complexion, long neck, wide mouth, a bosom not much raised and eyes which are black and beautiful.«3

Dass selbst wohlwollende Zeitgenossen ihre Schönheit (im Sinne des damaligen Ideals!) nicht gerade in den Himmel loben, können wir davon ausgehen, dass es sich um einigermaßen treffende Beschreibungen handelt. Sie entsprach also nicht dem Bild der blassen, blonden englischen Rose, sondern hatte einen dunkleren Touch und damit, was wiederum besonders attraktiv sein konnte, einen gewissen exotischen Faktor. Dieser wurde unterstrichen von ihrem modischen Stil, der sich eher an Frankreich als an England orientierte: Sie war am französischen Hof aufgewachsen und man attestierte ihr, dass man sie aufgrund ihrer Manieren »für eine geborene Französin« hielt.4 Einig sind sich alle, dass Anne Boleyn sehr schöne dunkle Haare und betörende dunkle Augen hatte, die sie mit viel Charisma einzusetzen wusste. Es war also nicht das reine Äußerliche, das sie offenbar so interessant machte, sondern ihr Auftreten und ihre Persönlichkeit. Zumindest ein grobes Bild können wir uns aus diesen Aussagen allerdings zimmern.

2. Die Portraits: Eine Typologie

Wenn wir weiter annehmen, dass in den verschiedenen Portraits zumindest körnchenweise Wahrheit steckt, können wir außerdem eine Art »Mittelweg-Anne« erschließen. Von vielen Bildern besitzen wir einige verwandte Versionen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

National Portrait Gallery

Portrait von Anne Boleyn, National Portrait Gallery.
Anne Boleyn, NPG. (Bildquelle5)

Dieses, in der National Portrait Gallery in London befindliche, Bild stammt aus der Regierungszeit von Annes Tochter Elizabeth und könnte die Kopie eines verschollenen Originals sein. Die Gesichtszüge ähneln denen von Elizabeth I. sehr und sind vermutlich ein wenig stilisiert worden, könnten ansonsten aber nah an dem liegen, wofür Anne zu Lebzeiten Modell saß. Anne tragt hier eine französische Haube, sinnbildlich für den Modestil, den sie vom Kontinent mitbrachte.

Hever Castle

Anne Boleyn, das Portrait von Hever Castle.
Anne Boleyn mit Rose, Hever Castle. (Bildquelle6)

Das Hever Rose Portrait is ein weiteres sehr bekanntes Bild, das möglicherweise nicht zu lange nach Annes Tod entstanden ist. Es wurde kürzlich restauriert (hier zu sehen), eine Altersbestimmung des Materials ist jedoch noch nicht erfolgt. Die Darstellung ähnelt sehr der NPG-Version, sodass wir von einer womöglich identischen Vorlage ausgehen können. Noch bis ins Jahr 1773 ist die Existenz eines zeitgenössischen Portraits nachgewiesen, und es fuchst nicht nur mich, dass es verschollen ist. Viele der späteren Bilder gehen möglicherweise darauf zurück. Was wir übereinstimmend sehen, sind Annes dunkle Haare, ihre dunklen Augen und ihr ovales Gesicht.

Ein weiteres mögliches Portrait von Anne Boleyn, das sich in Hever Castle befindet.
Anne Boleyn, Hever Castle. (Bildquelle7)

Auf den ersten Blick ganz anders erscheint der zweite Bildtypus, von dem sich ebenfalls einige Versionen in Annes Elternhaus, Hever Castle, befinden und der auch in der Popkultur breit rezipiert wird. Hier trägt eine junge Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht die klassische englische Giebelhaube und schaut am Betrachter vorbei. Ob es sich hier um Anne handelt, ist unsicher, allerdings könnte das Bild Teil eines Schwesternportraits mit dem entsprechenden Gegenstück von Mary Boleyn sein, das sich schon lange in der Sammlung von Hever befindet.

Portrait von Mary Boleyn.
Mary Boleyn, Hever Castle. (Bildquelle8)

John-Hoskins-Miniatur

Miniatur, wahrscheinlich von John Hoskins, die Anne Boleyn zeigt.
Anne Boleyn nach John Hoskins. (Bildquelle9)

Dem Typus des NPG-Portraits und des Hever Rose Portraits folgt die John Hoskins zugeschriebene Miniatur in der Buccleuch Collection, die ebenfalls auf ein »altes« Original zurückgehen soll. Auch hier lassen sich gemeinsame Gesichtszüge ausmachen, die uns den ein oder anderen kleinsten Nenner liefern.

Chequer’s Ring

Der Chequers Ring, der Elizabeth I. und Anne Boleyn zeigt.
Der Chequers Ring. (Bildquelle10)

Ein ganz besonderes Relikt ist der sogenannte Chequers Ring, der Elizabeth I. gehört hat. Klappt man den Stein mit dem diamantenen »E« auf, erscheinen zwei winzige Miniaturen. Eine davon zeigt ganz klar Elizabeth als Königin; die andere eine Frau in französischer Haube, wie sie in den 1530ern Mode war. Ein anderer Schluss als der, dass es sich hier um die Königinnenmutter Anne Boleyn handelt, kommt kaum in Frage. Einerseits handelt es sich dabei um den berührenden Beweis, dass Elizabeth trotz des frühen Todes ihrer Mutter ein sehr persönliches Andenken bewahrte, andererseits wiederholen sich auch hier die wesentlichen Gesichtszüge der anderen Bilder.

Hans Holbein

Ein Künstler, der die Regierungszeit von Heinrich VIII. dominiert hat, ist Hans Holbein. Mehr über seine Lebensgeschichte gibt es hier zu lesen. Ihm verdanken wir viele großartige Einsichten in jene Zeit. Und er wurde nachweislich von Anne Boleyn gefördert, fertigte etwa Dekorationen für ihre Krönung an. Warum also gibt es keine Spuren von einem Portrait dieser Königin, das er gemalt hat? Auch hier liegt die mutwillige Zerstörung oder schlicht der Zahn der Zeit als Grund nahe. Ich persönlich bin überzeugt, dass es ein Anne-Gemälde aus seiner Hand gegeben haben muss, weil ich es für unmöglich halte, dass sie nicht für ihn Modell saß. Dass das Werk vermutlich verloren ist, ist deshalb so bitter, weil Holbein ein herausragender Maler war und die Diskussion um Annes Aussehen damit vermutlich beendet wäre. Zwei Zeichnungen aus seinem Gesamtwerk sollen Anne zeigen, beide Zuschreibungen sind aber massiv umstritten und sehr unsicher.

Mögliche Skizze der Anne Boleyn von Hans Holbein.
Skizze von Hans Holbein. (Bildquelle11)

Das erste Bild scheint eindeutig die Vorlage für das enstprechende Gemälde in Hever gewesen zu sein. Es passt allerdings auffällig schlecht zu den anderen Portrait-Typen. Die Inschrift, die sie als »Anna Bullen« identifiziert, wurde erst im 17. Jahrhundert hinzugefügt. Viele Bilder aus späterer Zeit gehen auf dieses Modell zurück, es ist aber unklar, durch wen diese Frau erstmals mit Anne in Verbindung gebracht wurde und wie viel Autorität wir der Zuschreibung beimessen können.

Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen, existiert eine zweite Zeichnung mit der Inschrift »Anna Bollein Queen«, die sehr wenig mit der ersten gemein hat. Die Zuordnung aus den 1540ern stammt von John Cheke, dem Erzieher von Heinrichs Sohn Edward. Er kannte Anne wahrscheinlich nicht persönlich, kam aber nur wenige Jahre nach ihrem Tod an den Hof und bewegte sich inmitten der Menschen, die sich noch lebhaft an sie erinnerten. Allerdings hat sich Cheke auch bei der Zuschreibung anderer Zeichnungen aus Holbeins Sammlung geirrt, wir können uns also auch hier nicht sicher sein.

Mögliche Skizze von Anne Boleyn von Hans Holbein.
Skizze von Hans Holbein. (Bildquelle12)

Dass die gezeigte Dame ein Nachtgewand trägt, muss der Darstellung einer Königin nicht unbedingt widersprechen, da Holbein auch Christina von Dänemark in ähnlicher Kleidung portraitierte. Allerdings blitzen unter der Haube eindeutig blonde Haare hervor, was nicht zu Anne passt. Und, ganz unwissenschaftlich formuliert, gibt die Zeichnung nicht die energetische, charismatische Persönlichkeit wieder, über die sich selbst ihre Feinde einig waren. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, dass verschiedene Bilder auch verschiedene Lebensstadien zeigen könnten. Vielleicht war Anne hier sogar schwanger oder wollte sich mehr als Mutter denn als modische Ikone zeigen? Auch bei dieser Zeichnung können wir nicht ausschließen, dass die Zuschreibung korrekt ist, aber ein Zweifel bleibt.

3. Die »Moost Happi«-Medaille und ihre Rekonstruktion

Ein möglicher Schlüssel liegt in einer unscheinbaren kleinen Medaille aus Blei, die in der British Library aufbewahrt wird: Sie zeigt, wenngleich sie beschädigt ist, Anne Boleyn. Dazu die Inschrift »A.R. THE MOOST HAPPO ANNO 1534«.

Die "Moost Happi"-Medaille aus dem Jahr 1534, die Anne Boleyn zeigt.
Die „Moost Happi“-Medaille. © The Trustees of the British Museum. (Bildquelle13)

A.R. steht für Anna Regina, also »Königin Anne« und »The Most Happy« war ihr Motto, etwa »Die Glücklichste« (wobei »happy« damals wohl die Bedeutung des heutigen Wortes »lucky« hatte, also im Sinne von »Glück haben« zu verstehen ist). Das Besondere ist das Entstehungsjahr 1534, denn das bedeutet, dass wir es hier mit dem einzigen Portrait zu tun haben, das nachweislich zu Annes Lebzeiten entstanden ist! Und da eine solche Medaille nur in königlichem Auftrag erstellt werden konnte, dürfen wir davon ausgehen, dass es sich um eine von Heinrich VIII. und Annne autorisierte Darstellung handelt. Leider ist die Gesichtspartie beschädigt, sodass sich auf den ersten Blick nicht zu viele Details erkennen lassen. Aber dennoch sehen wir auch hier hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn und ein ovales Gesicht. Eric Ives ist auf Basis der Medaille überzeugt, dass Anne auf keiner der Holbein-Skizzen zu sehen ist. Und dass wir mit einem Vergleich der Medaille, des Rings von Elizabeth, des Hever- bzw. NPG-Typus und der Hoskins-Miniatur der echten Anne am nächsten kommen:

Portrait medal – Chequers ring – Hever/NPG pattern – Hoskins minature: the chain is complete. We have the real Anne Boleyn.14

Lange Zeit wurde die Medaille eher stiefkindlich behandelt. Was sollte man auch ableiten können aus dem verkratzten kleinen Ding, das invidiuelle Gesichtszüge nur erahnen lässt? Eine ganze Menge! Die britische Bildhauerin Lucy Churchill hat die Medaille detailliert interpretiert und eine großartige Rekonstruktion angefertigt. Lucy hat jahrelange Erfahrung als Steinmetzin und arbeitete an der Instandsetzung zahlreicher historischer Monumente mit. Ihren Arbeitsprozess an der Medaille schildert sie hier ausführlich. Neben hochauflösenden Vergrößerungen arbeitete sie auch mit dem Original im British Museum, um ein detailliertes Wachsmodell anzufertigen:

Die Rekonstruktion der Medaille von Lucy Churchill.
Die Wachsvorlage (Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Lucy Churchill.)

Durch das behutsame Studium des Materials gelang Lucy eine sehr glaubwürdige Rekonstruktion dessen, wie die intakte Medaille einst ausgesehen haben könnte:

Die fertige Rekonstruktion der Medaille von Lucy Churchill.
Die fertige Rekonstruktion (Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Lucy Churchill.)

Für diese Arbeit erhielt Lucy Churchill durchgängiges Lob, und zwar von allen namhaften Historikern. So uneins sie sich sonst in der Deutung der Tudorzeit sein mögen, die rekonstruierte Medaille wird als die akkurateste Annäherung an die echte Anne Boleyn gewertet, die wir bis dato haben – unisono von Eric Ives, David Starkey, Alison Weir, Claire Ridgway, Susan Bordo, Owen Emmerson und vielen anderen.

Aus meiner Sicht bestätigt die Medaille die Merkmale aus den zeitgenössischen Beschreibungen und stimmt mit den Gesichtszügen des Portraits im Chequers Ring überein, die auf späteren Gemälden weicher und verfeinerter dargestellt werden. Keine englische Rose, aber eine selbstbewusste Frau, die den Betrachter fast herausfordernd ansieht. Oder, wiederum mit den Worten Eric Ives’ gesprochen: »A face of character, not beauty«15.

Jenseits der reinen Äußerlichkeiten können wir aber noch viel mehr aus der Medaille ablesen. Wie bereits erwähnt, wurde sie in königlichem Auftrag angefertigt und diente mit Sicherheit der »Öffentlichkeitsarbeit«, weniger neutral: der Propaganda. Anne Boleyn wurde 1533 zur Königin gekrönt, sodass man einen Moment nachdenken muss, um einen Grund zu finden, weshalb ein Jahr später eine solche Münze in Auftrag gegeben wurde. Höchstwahrscheinlich sollte damit die zweite Schwangerschaft der Königin gefeiert werden – Anne Boleyn trug, so die große Hoffnung, endlich den ersehnten männlichen Erben des Königs und war zu diesem Zeitpunkt »the most happy«. Leider erklärt das auch, weshalb wir keine weiteren Exemplare der Medaille besitzen: Die Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt und vermutlich wurde die Münze nie fertig geprägt und unter die Menschen gebracht.

3.1. Die Medaille als Propaganda-Werkzeug

Anne als Königin, Anne als Schwangere, als zukünftige Mutter des Thronerben: Es ist eindeutig, welches Bild sie hier von sich zeichnen wollte. Lucy Churchill analysiert überzeugend, dass Anne ganz bewusst nicht den Portraittyp mit der französischen Haube gewählt hat, der sie als charismatische, modische Ikone zeigt. Anne war als Nachfolgerin der noch lebenden Katharina von Aragón alles andere als unumstritten, und hier war es ihre klage Agenda, sich ganz traditionell als englische Königin zu positionieren – die Geburt eines männlichen Kindes hätte diese Rolle zementiert. Französische Einflüsse waren also unerwünscht, weshalb Anne die Giebelhaube trägt, die auch ihre Vorgängerin getragen und als Symbol der Königin von England geprägt hat. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb Anne zu ihrer Hinrichtung mit einer solchen englischen Haube erschien, um sich bis zum letzten Moment als rechtmäßige Königin auszuweisen!

Wie tief die Symbolkraft der Medaille darüber hinaus noch geht, können wir an einem Vergleich mit den Portraits der anderen Ehefrauen Heinrichs VIII. ablesen. Ich gebe hier die Argumentation wieder, die Lucy Churchill auf ihrer Webseite darlegt und die ich sehr überzeugend finde.

Haube und Schmuck: Das Inventar der englischen Königinnen

Der mikroskopische Blick auf die Strukturen, die die originale Medaille noch erkennen lässt, legt die Vermutung nahe, dass sogar ein und dieselbe Haube mindestens drei Königinnen überdauert hat. Ein sehr detailliertes Abbild des Kopfschmuckes verdanken wir dem Portrait von Annes Nachfolgerin, Jane Seymour, aus der Hand von Hans Holbein. Das Stoffmuster sowie die Abfolge der Edelsteine an der Umrandung erscheinen in der Tat identisch! Und darüber hinaus lassen sich dieselben Juwelen auch in Portraits von Katharina von Aragón erkennen. Zumindest die edelsteinbesetzte Basis, womöglich aber die ganze Haube, wurde also von einer Ehefrau Heinrichs zur nächsten weitergereicht und hier und da umgearbeitet. Welche Gedanken Jane Seymour dabei hegte, womöglich die Haube der gerade erst geköpften Vorgängerin tragen zu müssen, wissen wir leider nicht. Auch der kreuzförmige Anhänger an Annes Hals entspricht womöglich einem der Kreuze, die von Katharina von Aragón getragen wurden.

Ziemlich sicher können wir uns bei der Halskette selbst sein. Das Muster der Juwelen ist gut erkennbar, und wir sehen genau diese Kette mit wechselnden Anhängern auf dem Portrait von Jane Seymour, auf einem Portrait, das höchstwahrscheinlich Heinrichs fünfte Ehefrau Katherine Howard zeigt, und auf einem Gemälde, das vor einiger Zeit als Darstellung von Katherine Parr, Ehefrau Nummer sechs, identifiziert wurde. Offenbar haben wir es hier mit Juwelen zu tun, die als offizielle Insignien der Königin dienten. Wir wissen, dass Anne 1532 von Katharina von Aragón die Herausgabe von Schmuckstücken verlangte, um als Königin aufzutreten. Dazu gehörten vielleicht jene Halskette und die Haube, sodass es nur Sinn ergibt, dass Anne sich auch auf der Medaille mit dem Schmuck abbilden ließ.

Ein Vergleich der Hauben und des Schmucks von den Königinnen Heinrichs VIII.
Anne Boleyn, Katharina von Aragón, Jane Seymour, Katherine Howard, Katherine Parr. (Bildquellen16)

Die Annahme liegt also nahe, dass es sich hier um ein »Set« handelte, das nicht den Frauen persönlich gehörte, sondern Teil der Ausstattung der amtierenden Königin war. Und Anne ließ bei der Herstellung der Medaille die volle symbolische Kraft auffahren, um sich bildgewaltig als rechtmäßige Königin und das ungeborene Kind als unangefochtenen Thronfolger zu inszenieren.

Das wiederum gibt uns einen weiteren Einblick in Annes Persönlichkeit und ihre Ambitionen und beweist, dass ihr sehr daran gelegen war, das Bild, das die Öffentlichkeit von ihr gewann, zu kontrollieren. Daran und an dem Detailgrad der Medaille können wir bemessen, wie autoritativ die Darstellung zu verstehen ist: Wenn die Kleidung mit solcher Akribie festgehalten wurde, dürfen wir erwarten, dass auch das Gesicht sorgfältig wiedergegeben ist, argumentiert Lucy Churchill.

That the costume is so well depicted suggests that the features of the face are likely to have been equally well observed.17

Auch ich habe die »Moost Happi Medal« lange Zeit kaum beachtet, bis ich von den weitreichenden Recherchen erfuhr, die Lucy Churchill vorgenommen hat. Ihre Rekonstruktion besitze ich inzwischen als Anhänger und bin hin und weg von der lebendigen Dreidimensionalität, die Anne Boleyn im wahrsten Sinne des Wortes greifbar macht. Ich trage sie als ein Stück »Geschichte zum Anfassen« jeden Tag. Wer sich dafür interessiert, wird hier fündig. Ich bin sicher, wenn die selbstbewusste und ambitionierte Anne Boleyn wüsste, dass wir ihrer Bedeutung heute auf diese Weise Rechnung tragen, wäre sie erneut »The Moost Happi«.

Die Rekonstruktion der "Moost Happi"-Medaille als Anhänger.
Anne Boleyn als Anhänger. (Bildquelle18)

[Keine Werbung; ich habe die Kette selbst gekauft und mache aus Überzeugung darauf aufmerksam, ohne eine Gegenleistung dafür zu erhalten. Lucy Churchill hat mir aber freundlicherweise gestattet, ihr Bildmaterial für den Artikel zu verwenden. Thank you, Lucy!]

***

  1. Zitiert nach Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 39.
  2. Zitiert nach Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 40.
  3. Zitiert nach Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 40.
  4. »a native-born Frenchwoman«, Lancelot de Carles, zitiert nach Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 45.
  5. Mögliches Gemälde der Anne Boleyn, aus dem späten 16. Jahrhundert, von einem unbekannten Künstler, National Portrait Gallery London, NPG 668, gemeinfrei für nicht-kommerzielle Zwecke, https://www.npg.org.uk/collections/search/portrait.php?search=ap&npgno=668&eDate=&lDate=, Zugriff am 18.11.2018.
  6. Anne Boleyn, unbekannter Künstler, Englische Schule, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=825024, Zugriff am 26.05.2021
  7. Möglicherweise Anne Boleyn, nach Hans Holbein dem Jüngeren – Tudorplace.com 2008-07-14, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4390864, Zugriff am 26.05.2021.
  8. Mary Boleyn, unbekannter Künstler, http://tudorhistory.org/people/mboleyn/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=213847, Zugriff am 26.05.2021.
  9. Anne Boleyn, John Hoskins zugeschrieben, http://www.tudorplace.com.ar/images/Boleyn,Anne(min).jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4390830, Zugriff am 26.05.2021.
  10. Ring von Elizabeth I., Chequers Trust, Foto von Danny, CC BY-SA 3.0, https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=22296020, Zugriff am 26.05.2021.
  11. Mögliche Zeichnung von Anne Boleyn, von Hans Holbein – Susan Foister, Holbein in England, London: Tate, 2006, ISBN 1854376454. Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6438303, Zugriff am 26.05.2021.
  12. Hans Holbein: Skizze einer unbekannten Frau, möglicherweise Anne Boleyn, ca. 1530-36, aus http://www.royalcollection.org.uk/collection/912189/queen-anne-boleyn-c-1500-1536-on-the-verso-a-coat-of-arms-of-the-wyatt-family-and, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38073829, Zugriff am 16.07.2017.
  13. Anne Boleyn, 1534, https://www.britishmuseum.org/collection/object/C_M-9010, Zugriff am 26.05.2021.
  14. Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 43.
  15. Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010, S. 43.
  16. 1. Anne Boleyn, Rekonstruktion der Medaille von Lucy Churchill. 2. Katharina von Aragón, Englische Schule, 16. Jahrhundert, Royal Collection, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92144057, Zugriff am 30.05.2021. 3. Jane Seymour von Hans Holbein, 1536-37, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4624919, Zugriff am 30.05.2021. 4. Portraitminiatur von Hans Holbein, möglicherweise Katherine Howard, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15496724, Zugriff am 30.05.2021. 4. Katherine Parr, Kopie nach Master John, http://www.nationaltrustcollections.org.uk/object/1276906https://artuk.org/discover/artworks/queen-catherine-parr-15121548-170943/view_as/grid/search/keyword:catherine-parr/page/1#, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=13408812, Zugriff am 30.05.2021.
  17. Lucy Churchill, The ›Moost Happi‹ portrait of Anne Boleyn, https://lucychurchill.wordpress.com/2012/05/14/the-moost-happi-portrait-of-anne-boleyn-a-rec/, Zugriff am 26.05.2021.
  18. Eigenes Foto, Lea Gerstenberger, 24.05.2021.

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