Ein neuer Blick auf das Florenz der Medici
Es ist kein Geheimnis, dass mich die Renaissance als Epoche besonders fasziniert und ich insbesondere zu den Medici in Florenz immer wieder zurückkehre. »Florentia«, der neue Roman von Noah Martin, eignet sich dafür perfekt. Ich hatte das Privileg, ihn schon während seiner Entstehung zu lesen und kann ihn deshalb rundheraus empfehlen. Noah Martin entwirft eine neue Perspektive auf bekannte Figuren und Ereignisse und erklärt im Interview, warum uns die Protagonist*innen bis heute so nah erscheinen: Weil sie vor allem menschlich waren. Die Spuren ihres Lebens lassen sich in Florenz noch immer verfolgen.
Glanz und Gewalt zur Zeit der Medici
Wir feiern die Renaissance heute als Wiege der (westlichen) Kultur und des humanistischen Denkens und verdanken ihr viele der renommiertesten Kunstwerke der europäischen Geschichte. Doch das neue Denken, künstlerischer Genius und das Zelebrieren von Schönheit waren nur eine Seite der Medaille. Während all diese Errungenschaften entstanden, war Italien fast durchgehend von Kriegen geprägt. Die Stadtstaaten und Fürstentümer bekämpften einander, Söldnerheere zogen durch die Lande und auch im Alltag war eine hohe Gewaltbereitschaft an der Tagesordnung. Die folgenden Abschnitte enthalten minimale Spoiler zu historischen Ereignissen, die auch im Roman thematisiert werden. Spoilerfrei geht es hier weiter!
Dass dieser Gegensatz auch vor der Aristokratie nicht Halt machte, kann man an der Architektur ablesen: Die schönsten Palazzi, die von innen filigran und leicht erscheinen, sehen von außen wie uneinnehmbare Festungen aus. Gute Beispiele in Florenz sind der Palazzo Strozzi und der Palazzo Medici. Hat man erst einmal den Eingang in den klotzartigen Bau gefunden, zeigt sich plötzlich ein prächtig ausgemalter Innenhof mit schlanken Säulen und offenen Loggien.
Obwohl die Innenräume des Palazzo Medici später von der Familie Riccardi umgestaltet wurden, lässt sich noch erahnen, wie die Familie um Lorenzo den Prächtigen dort lebte, Intellektuelle und Künstler ein und aus gingen und die Geschicke der Stadt gesteuert wurden. Diese Lebendigkeit und den Palazzo als einen offenen Ort schildert auch Noah Martin eindrücklich in »Florentia«. Der faszinierendeste, nahezu original erhaltene Raum ist die Kapelle mit den Fresken von Bennozzo Gozzoli, die die gesamten Wände einnehmen. Aber auch im noch vorhandenen Rest des Gartens kann man sich die rauschenden Feste, die dort gefeiert wurden, bildlich vorstellen.
Die Funktion des Palazzos als Rückzugsort erfuhren die Medici spätestens 1478 am eigenen Leibe. Ihre Herrschaft über Florenz war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Form ihres Herzogtums institutionalisiert, sondern beruhte auf der Akzeptanz der Bevölkerung und einem stetigen Aushandlungsprozess zwischen den wichtigsten Familien der Stadt. Unter der Federführung der Familie Pazzi, die dabei mit dem Papst unter einer Decke steckte (der wiederum ein Hühnchen mit den Medici zu rupfen hatte), verübten einige gedungene Mörder einen Anschlag auf den de facto Stadtherrn Lorenzo und seinen jüngeren Bruder Giuliano – und zwar vor dem Altar des Doms Santa Maria del Fiore, während des Hochamtes! Mehr über die Hintergründe der Pazzi-Verschwörung gibt es hier zu lesen. Auch in »Florentia« wird anschaulich geschildert, welche Verwicklungen und Interessen dazu führten.
Giuliano erlag seinen Verletzungen noch in der Kirche, während Lorenzo sich in die Sakristei retten konnte und das Attentat überlebte. Er zog sich mit seinen Anhängern in die Sicherheit des Palazzo Medici zurück. Der Umsturzversuch schlug fehl, wobei ein anderes Gebäude eine tragende Rolle spielte: Der Palazzo Vecchio, damals als Palazzo della Signoria Sitz der Stadtregierung und offizielle Schaltzentrale der Macht. Der Plan der Verschwörer sah vor, den Regierungssitz zu besetzen, die Bevölkerung aufzuwiegeln und die Herrschaft an sich zu reißen. Doch es gelang ihnen nicht, die Stimmung gegen die Medici zu wenden, sodass es den Verschwörern selbst an den Kragen ging. Zahlreiche von ihnen wurden nackt an den Fenstern des Palazzo Vecchio aufgeknüpft oder in den Straßen gelyncht.
Einer, Bernardo Bandini Baroncelli, wurde gar bis nach Konstantinopel verfolgt – eine Skizze des Toten ist von Leonardo da Vinci erhalten. An den Wänden des Palazzo Vecchio verewigte Sandro Botticelli die Verschwörer zur Abschreckung, diese Malereien existieren allerdings nicht mehr. Die Pazzi fielen einer regelrechten damnatio memorae zum Opfer, sodass keinerlei Porträts der Familienmitglieder erhalten sind. In Florenz kann man sich noch den Palazzo Pazzi (er beherbergt heute die Büros einer Sozialversicherung) und die Pazzi-Kapelle in der Kirche Santa Croce ansehen.
Die Medici und die Kunst: Prestige und Politik
Nicht nur an der etwas morbiden Abbildung von Hingerichteten ist die enge Verschränkung von Kunst und Politik erkennbar. Die Medici, die als Mäzene besonderer Güte in die Geschichte eingegangen sind, förderten die Kunst nicht nur aus Feinsinn. Sie war auch eine sehr wirksame Propagandamaschinerie in einer Zeit, in der sich öffentlichkeitswirksame Medien erst herausbildeten. Sowohl die Förderung religiöser Kunst als auch die Hinwendung zu weltlichen Werken hatte stets eine Aussage über den Auftraggeber inne.
Es ist also kein Zufall, dass Lorenzo »der Prächtige« als Pate der Renaissancekunst gilt. Er scharte nicht nur die bedeutendsten Gelehrten um sich, die sich mit zeitgenössischer Philosophie, aber auch der Literatur der Antike befassten, darunter Pico della Mirandola, Angelo Poliziano und Marsilio Ficino, und legte den Grundstein für die Kunstsammlungen, die bis heute in Florenz bewundert werden. Unter seiner Ägide florierten auch die Karrieren vieler der bedeutendsten Künstler der Epoche. Unter anderem Sandro Botticelli und Leonardo da Vinci wurden in der Werkstatt von Andrea del Verrocchio ausgebildet und von Lorenzo protegiert, ebenso wie später der junge Michelangelo im Medici-Haushalt in die Lehre ging. Es gab auch Künstlerinnen in der Renaissance, wobei wir nur ganz wenige namentlich kennen und viele entweder für immer vergessen sind oder gerade erst wiederentdeckt werden. Für sie steht in »Florentia« die junge Fioretta Gorini, die Malerin werden möchte. Über die historische Figur wissen wir so wenig, dass diese Charakterisierung durchaus im Bereich des Möglichen liegt.
Die Atmosphäre unter den Künstlern fängt Noah Martin im Roman sehr lebendig ein, wobei die meisten von ihnen noch am Anfang ihrer Laufbahn stehen. Verrocchio muss allerdings bereits daran knabbern, dass sein junger Schützling Leonardo bessere Ideen und ein größeres Talent besitzt als er selbst. Obwohl vieles in Teamarbeit entstand, konnten sich einige mehr profilieren als andere. Es ging dabei nie ausschließlich um die Schaffung der großen Meisterwerke, sondern auch profanere Arbeiten: Kunstwerke waren auch Gebrauchsgegenstände, die für Theateraufführungen und Feste gemalt und hinterher weggeworfen wurden – wie bei den Hochzeitsfeierlichkeiten von Lorenzo de Medici und Clarice Orsini, die auch im Roman ausführlich beschrieben werden. Der Status des Künstlers wandelte sich in der Renaissance erst von dem eines Handwerkers hin zum kreativen Schöpfer. Und genau das bewundern wir heute: Wer Florenz besucht, sollte sich die epochalen Meisterwerke unbedingt ansehen, etwa Botticellis Venus und die Primavera, Highlights der Uffizien, oder die mit Hochkarätern gepflasterten Galerien im Palazzo Pitti. Und wer es plastischer mag, kann im Bargello die vielen Skulpturen, darunter von Donatello und Verrocchio, bewundern oder sich an der Galleria della Academia für Michelangelos David anstellen (oder auf die Kopie vor dem Palazzo Vecchio ausweichen).
Botticelli hat einen Großteil seines Lebens im Viertel Ognissanti in Florenz verbracht, wo er auch seine eigene Werkstatt einrichtete. Zu sehen ist davon heute nichts mehr, aber in der Kirche Ognissanti, in der auch Fresken von ihm sind, befindet sich sein Grab. Ergriffene Besucher hinterlassen bis heute Blumen oder handschriftliche kleine Botschaften, um dem Genie ihre Verehrung mitzuteilen. Auch die schöne Simonetta Vespucci, die seine Gemälde vermutlich inspirierte und die im Roman »Florentia« eine wichtige Rolle spielt, ist dort beerdigt.
Ein Teil der Verklärung dieser Menschen, die zweifellos Großes geschaffen haben, geht auf Giorgio Vasari zurück, der selbst zahlreiche künstlerische Meriten vorweisen kann, aber vor allem mit den von ihm verfassten »Viten« der bedeutenden Renaissancekünstler gewissermaßen die Kunstgeschichte erfunden hat. Erfunden oder zumindest stark ausgeschmückt hat er mit Sicherheit auch zahlreiche Anekdoten in den Lebensgeschichten, die wir nicht vollständig für bare Münze nehmen sollten. So stimmt sicherlich nicht jedes Detail über das Leben des Leonardo da Vinci, den Vasari »wirklich bewundernswert und göttlich« fand. Andere Aspekte, wie Leonardos Tierliebe und die Neugierde, die ihn schon als Jungen antrieb, scheinen den Tatsachen zu entsprechen.
Interview: Leonardo da Vinci als queerer Protagonist
In »Florentia« scheint natürlich das Genie bereits durch, das diesem Ausnahmemenschen nicht abzusprechen ist. Und gleichzeitig ist er im Roman ein junger Mann, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hat, ebenso wenig wie seinen Weg als Künstler. Einer, der manchmal mit dem Kopf woanders ist und seine eigene Persönlichkeit noch entdecken muss. Dazu gehört auch, dass er sich in ein Mitglied der Familie Medici verliebt – einen Mann. Dass Leonardo homosexuell war, gilt inzwischen als wissenschaftlich gesichert. Großes Augenmerk wurde darauf lange nicht gelegt. Dass »Florentia« diese Seite des jungen Mannes in den Fokus nimmt, eröffnet also eine neue Perspektive auf seine Persönlichkeit und auf seine Zeit in Florenz. Ich habe mit Noah Martin darüber gesprochen, wie Leonardos Queerness im Roman umgesetzt wurde.
Warum hat die Kunstgeschichte so lange ignoriert, dass Leonardo mit großer
Sicherheit schwul war?
Noah Martin: »Die Kunstgeschichte hatte, wie die Geschichtsforschung generell, lange Zeit einen eher konservativen Blick auf die Welt: Sie war eurozentrisch und kolonialistisch geprägt, und nahm gerade bei den Künstler*innen, die vor dem 20. Jahrhundert lebten, oft einfach Heteronormativität an, ohne das zu hinterfragen. Natürlich gab es auch im 20. Jahrhundert schon Wissenschaftler*innen, die das Leben großer Künstler*innen offener betrachteten, aber häufig wurden Biografien, die recht eindeutig auf Queerness hinwiesen, schlicht umgedeutet. Und wenn sich partout kein heterosexueller Lebenslauf konstruieren ließ, wurde wie z.B. bei Leonardo eine totale Vergeistigung beschworen, die die vermutete Homosexualität zu einer ziemlich theoretischen Angelegenheit erklärte. Dabei gibt es tatsächlich viele Hinweise darauf, dass Leonardo seine Queerness auch auslebte.«
Wie ändert dieses Wissen den Blick auf sein Leben und sein Werk?
Noah Martin: »Spannend ist das zum Beispiel für die Interpretation seiner Gemälde. Wenn man sich die androgyne Figur auf dem Gemälde »Johannes des Täufer« anschaut und weiß, dass das Modell vermutlich Leonardos Lebensgefährte Salai war, sieht man neben der religiösen und metaphorischen Seite sofort auch eine erotische Komponente – und das ist für eine mögliche Deutung natürlich nicht unwichtig. Androgynität und das Spiel mit Identität zeichnen viele von Leonardos malerischen Werken aus, und ich denke, wir bekommen einen anderen Zugang dazu, wenn wir Leonardo als Künstler und als Mensch mit all seinen Facetten sehen.«
Wie war es für dich, eine Person mit queerem Hintergrund zu beschreiben, die
im 15. Jahrhundert gelebt hat?
Noah Martin: »Zuallererst war queeres Leben in der Renaissance ein wirklich spannendes Recherchefeld, bei dem ich immer wieder meine bisherigen Vorstellungen und Kenntnisse auf den Prüfstand stellen musste. »Sodomie« – so der damalige Begriff für Homosexualität – war im 15. Jahrhundert in Florenz verboten, und wer dafür angeklagt wurde, musste mit einer empfindlichen Strafe rechnen. Gleichzeitig hatte Florenz als tolerante Metropole aber höchstwahrscheinlich eine große queere Community: im Rest Europas wurde »florenzen« als Synonym für schwulen Sex benutzt. Ich habe in »Florentia« versucht, diesem historischen Spannungsfeld gerecht zu werden. Was die queere Liebesgeschichte angeht, hatte ich das Glück, dass mir ein befreundeter queerer Autor als Testleser zur Seite stand, und mich bei expliziten Szenen und der Darstellung der Beziehungen beraten hat.«
Was ist dein Lieblingsort in Florenz?
Noah Martin: »Eine Dachterrasse in der Via dei Servi, von der aus man abends die Schwalben beobachten kann, die ihre Runden um die Kuppel des Doms ziehen. Mir ist das Schreiben des Romans nirgendwo leichter gefallen als dort.«
Rezension
Von Noah Martin hat mir bereits das Debüt »Raffael« enorm gut gefallen. »Florentia« ist mindestens genauso gelungen, wenn nicht sogar noch nuancierter und atmosphärischer. Was beide Romane gemeinsam haben, sind die vielen verschiedenen Perspektiven. Die Sicht mehrer Figuren unterschiedlichen Standes erlauben ein sehr abgerundetes Bild der damaligen Gesellschaft, die facettenreich und vielschichtig gezeigt wird. Das komplizierte politische und soziale System der Zeit wird in »Florentia« verständlich dargestellt, ohne dass Noah Martin ins Dozieren verfällt. Neben den illustren historischen Persönlichkeiten wie den Medici und den Künstlern von Botticelli bis da Vinci erleben wir auch die Sorgen und Nöte der jungen Malerin Fioretta Gorini und die Gräuel der Kriege, die während der Renaissance stets einen Schatten auf die blühende Kultur warfen. Die machtbewussten Medici waren da keine Ausnahme, sie haben es nur geschafft, ihre Verherrlichung in den Vordergrund zu rücken.
Die Erzählweise ist bildlich und lebendig, aber angenehm frei von Kitsch: Die Liebesgeschichten machen nicht alle Handlungsstränge aus, sind dabei ohnehin auch differenziert geschildert; und die Figuren sind glaubhaft in den Kontext der Zeit eingebettet. Daran kann man die höchst fundierte Recherche und das tiefgehende Wissen, das Noah Martin über die Handlungszeit hat, ablesen. Dass wir mit dem jungen Leonardo da Vinci einen queeren Charakter haben, macht den Roman modern und entspricht gleichzeitig den historischen Tatsachen. Bedenkt man, dass queere Beziehungen in den meisten historischen Romanen entweder komplett ignoriert oder als aufsehenerregende Plot-Twists deplatziert werden, ist das eine besondere Stärke von »Florentia«.
Generell mochte ich diesen sehr menschlichen und persönlichen Blickwinkel auf die altbekannten Figuren mit ihren Träumen, Sorgen und Ambitionen ganz besonders. Wir lernen sie als junge Menschen kennen und erleben sie sehr nahbar und irgendwie ziemlich »normal« – und das, obwohl wir natürlich um ihre Geschichten und Werke wissen und die Glorifizierung ihrer Persönlichkeiten durch die Nachwelt kennen.
»Florentia« bietet alles, was man sich von einem Renaissance-Roman wünschen kann. Egal, ob man in die Geschichte der Medici erst einsteigt oder schon gut bekannt mit den Ereignissen ist, der Roman ist eine spannende, unterhaltsame und reichhaltige Lektüre über diese von Kultur, Brutalität und Intrigen geprägte Zeit. Er transportiert auf wunderbare Weise den Glanz der Medici, der sich bis heute allerorten in Florenz entdecken lässt.
Noah Martin, Florentia – Im Glanz der Medici, erschienen 2023 im Droemer Knaur Verlag.
>>Link zum Buch<<