Ausschnitt aus dem Cover von "Anne Boleyn. A King's Obsession" von Alison Weir

Anne Boleyn FAQ | Alison Weir: Anne Boleyn

Annäherung an eine bekannte Unbekannte

Weiter geht die Reise durch die Welt der Tudors! Was eignet sich besser für einen Beitrag über meine historische Lieblingsfigur Anne Boleyn als der 19. Mai? Heute vor 485 Jahren wurde sie hingerichtet, und seither scheiden sich über ihre Person die Geister. Die Geschichte von Anne Boleyn kann an so vielen Stellen nachgelesen werden, dass ich sie nicht noch einmal chronologisch wiederhole. Stattdessen habe ich ein FAQ der häufigsten, interessantesten und strittigsten Fragen zusammengestellt – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Und am Ende gibt es eine Rezension zur Romanbiographie von Alison Weir – von Natur aus spoilerfrei 😉 Die FAQ sind aber nicht vom Romaninhalt bzw. Alison Weirs Deutungen abgeleitet, auch wenn sie sich teilweise überschneiden.

~ FAQ ~

Portrait von Anne Boleyn, National Portrait Gallery.
Dieses Portrait von Anne Boleyn ist während der Regentschaft von Elizabeth entstanden und geht vermutlich auf ein heute verschollenes Original zurück. (Bildquelle1)

Hatte Anne an einer Hand einen sechsten Finger?

Es ist der Mythos über Anne Boleyn: Sie soll an einer Hand einen sechsten Finger gehabt haben. Es ist auch der Grundstein für Mythos Nr. 2, nämlich, dass Anne 1536 als Hexe verurteilt worden sei. Wir verdanken die Story dem glühenden Katholiken Nicholas Sanders, der während der Regentschaft von Elizabeth I., nämlich um 1580, eine Beschreibung von Anne lieferte. Anne, die keine unwesentliche Rolle bei der Vorbereitung der englischen Reformation gespielt hatte und gleichzeitig eine Art »böse Stiefmutter« für die katholische Mary I. war, stellte sein erklärtes Feindbild dar. Außerdem war er bei ihrem Tod erst sechs Jahre alt und wird sie kaum je gesehen haben. Und davon abgesehen übertreibt er es einfach maßlos: Anne soll nicht nur den sechsten Finger gehabt haben, sondern außerdem Gelbsucht, einen hervorstehenden Schneidezahn und ein Geschwulst am Kinn. Die Agenda dieser angeblichen »Hexenmale« ist klar: Propaganda. Während es stimmt, dass Anne nicht dem damalig gängigen, rosig-blonden Schönheitsideal entsprach, eher ein dunklerer Typ war und auch von wohlgesonnenen Zeitgenossen eher als durchschnittlich schön, dafür aber charismatisch beschrieben wird, liegt auf der Hand, dass Heinrich VIII. die Frau aus Sanders’ Schilderungen keinesfalls jahrelang verehrt und zur Mutter seiner erhofften Erben gemacht hätte.

Und doch steckt in mancher Überzeugung ein Körnchen Wahrheit, jedenfalls in Bezug auf den sechsten Finger! George Wyatt, der Enkel von Annes Zeitgenosse und Dichter-Bekanntschaft Thomas Wyatt, schrieb ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen einen Bericht über Annes Leben. Er hatte also wahrscheinlich Zugang zu Leuten, die Anne noch persönlich gekannt hatten oder ihrem Umfeld nahestanden. Er berichtet, dass Anne an einem Finger den Ansatz eines zusätzlichen Fingernagels gehabt habe, der jedoch kaum aufgefallen sei und ihrer Schönheit keinen Abbruch getan habe. Das findet sich auch in der Chronik von George Cavendish, der zudem unterstreicht, dass Anne Boleyn keineswegs einen Kropf am Hals hatte, sondern einige Muttermale. Das wiederum ist angesichts ihres dunkleren Hauttyps nicht unplausibel. Und während Heinrich VIII. sicherlich keine Frau mit einem zusätzlichen Finger geheiratet hätte, scheint eine kleine Anomalie am Fingernagel nicht weiter ins Gewicht gefallen zu sein. Sanders hat dieses Detail schlicht zu Fake News aufgebauscht, um seine Aversion gegen Anne auszudrücken.

War Anne von niedriger Geburt?

Auch das ist eine romantische Vorstellung, die sich bisweilen hält. Zwar war Anne keine geborene Prinzessin, aber von den englischen Frauen Heinrichs war sie diejenige mit der höchsten Abstammung. In der Aussage, dass sie einer Familie von Kaufleuten entstamme, steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, denn ein Jahrhundert vor Annes Geburt machte tatsächlich ein Geoffrey Boleyn erst als Kaufmann und dann als Oberbürgermeister in London Karriere. Er und die beiden folgenden Generationen heirateten dann aber Damen aus dem hohen Adel. Damit hatte Anne also illustre Vorfahren aus bedeutenden Adelsfamilien vorzuweisen und ihr Vater hatte mit dem Erbanspruch auf die Grafschaft Ormonde die Aussicht auf einen sehr wichtigen Titel. Und dass Thomas Boleyn mit der hochrangigen Elizabeth Howard verheiratet war, öffente ihm schließlich die Türen zu seinem Aufstieg am Hof. Unter gewöhnlichen Umständen wäre also natürlich nicht zu erwarten gewesen, dass eine Frau wie Anne Königin werden würde, aber sie gehörte definitiv zum höheren Adel und ihr Vater hatte durchaus vor, ihr eine prestigeträchtige Heirat zu verschaffen. Dass er es zudem fertigbrachte, seine Töchter zur Vollendung ihrer Erziehung an ausländischen Höfen unterzubringen, zeugt von seinem großen Einfluss und seiner hohen Stellung. Anne kam als junges Mädchen zuerst für ein Jahr ins Gefolge von Margarete von Österreich, die damals die Niederlande regierte, und anschließend an den französischen Hof, wo sie für mehrere Jahre blieb.

Hat Anne Boleyn wirklich Leonardo da Vinci kennengelernt?

Leonardo da Vinci, womöglich ein Weggefährte der jungen Anne Boleyn?
Leonardo da Vinci, das Renaissancegenie. (Bildquelle2)

Zu Beginn von Alison Weirs Roman freundet sich Anne Boleyn am französischen Hof mit Leonardo da Vinci an. Mit da Vinci?! Die Verbindung zum italienischen Universalgenie liegt womöglich nicht sofort auf der Hand, aber tatsächlich waren beide zur gleichen Zeit am gleichen Ort: Anne Boleyn kam 1515 als Jugendliche an den französischen Hof, um als Hofdame erzogen zu werden, zuerst im Gefolge von Mary Tudor. Die Schwester von Heinrich VIII. hatte Ludwig XII. geheiratet. Nach dessen Ableben blieb Anne bis ca. 1522 in den Diensten von Königin Claude, der Gattin des neuen Königs Franz I., und dessen Schwester, Marguerite de Valois. Und der holte in der Tat keinen Geringeren als da Vinci nach Frankreich! Für Franz war die Ansiedlung des Künstlers eine Sache des Prestiges, für Leonardo, damals schon Mitte 60, sollte es der Alterssitz werden. Von 1517 bis zu seinem Tod 1519 residierte er in einem Haus in der Nähe von Schloss Amboise. Obwohl sich sein Gesundheitszustand bereits verschlechterte und er womöglich nicht mehr malen konnte, plante er noch Projekte, wie die Hochzeit des Thronfolgers oder auch architektonische Studien. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die junge Anne Boleyn dem illustren Gast einmal begegnet ist oder zumindest Kunstwerke von ihm zu Gesicht bekam (die Erkenntnis, dass Anne vielleicht die Mona Lisa gesehen haben könnte, verursacht bei mir nach wie vor einen Knoten im Gehirn). Gemalt hat er sie aber mit großer Sicherheit nicht: Dafür war Leonardo zu alt und zu prominent, und Anne zu jung und unbedeutend.

Hat Thomas Boleyn seine Töchter an den König verschachert?

Ein Narrativ, das häufig in Filmen und Serien bedient wird: Der ambitionierte Thomas Boleyn sorgt erst dafür, dass seine Tochter Mary die Mätresse des Königs wird, und als die Leidenschaft abkühlt, schiebt er Heinrich seine andere Tochter, Anne, unter. Wir müssen allerdings davon ausgehen, dass diese Interpretation nicht stimmt. Thomas Boleyn war ein fähiger und hochgeschätzter Diplomat. Es ist zwar richtig, dass er vom kometenhaften Aufstieg seiner Tochter profitierte, aber bereits bevor der König mit Mary und Anne anbandelte, erhielt er für seine Verdienste alle möglichen Privilegien und Posten. Und: Es scheint eher so gewesen zu sein, dass Thomas Boleyn ganz und gar nicht begeistert davon war, dass der König nacheinander ein Auge auf seine beiden Töchter warf. Ein Brief aus seinem Nachlass, den Anne als junges Mädchen schrieb, bevor sie nach Frankreich geschickt wurde, geht sie darauf ein, dass er ihr eingeschärft habe, sich würdig und tugendhaft zu verhalten. Die Reputation seiner Töchter (woran ihre Heiratschancen geknüpft waren), schien ihm wichtig, sodass er die Affären eher ablehnte und sich aufgrund von Heinrichs relativer Diskretion auch keine großen Vorteile erhoffen konnte. Erst, als der König tatsächlich beabsichtigte, Anne zu heiraten, unterstützte Thomas Boleyn diesen Aufstieg aktiv und verdankte dann auch so manche Förderung seiner Familie der Position seiner Tochter.

War Anne von Anfang an nur auf die Krone aus?

Ähnlich ruchlose Ambitionen wie ihrem Vater sagt man auch Anne Boleyn nach: Ihre Persönlichkeit ist in vielen Punkten ein Mysterium, und so wissen wir letztlich nicht, wie ihre Gefühle für den König aussahen und was sie sich von ihm versprach. Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass sie Heinrich VIII. aktiv verführte und dabei den Plan hegte, die amtierende Königin Katharina von ihrem Thron zu stoßen – eine zu verwegene Idee, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Es sieht ganz danach aus, als habe Anne anfangs tatsächlich versucht, sich vom König zu distanzieren und sein Werben nicht zu ermutigen. Sicherlich hatte sie dabei den ruinierten Ruf ihrer Schwester im Hinterkopf. Dass Heinrichs Leidenschaft davon noch befeuert wurde und er ohnehin bereits überlegte, sich von Katharina von Aragón zu trennen, konnte Anne kaum vorhersehen. Dass sie dann aber einwilligte, Heinrich zu heiraten, ist keine große Überraschung. Angesichts ihres Charakters und ihres Selbstvertrauens muss sie diese Möglichkeit bereitwillig ergriffen haben – ihre aktiven Einmischungen in die Politik beweisen, dass sie das Spiel der Macht gerne mitgespielt hat. Heinrich war also zu Beginn ganz klar die treibende Kraft in der Beziehung, was Anne in Erwartung ihres außergewöhnlichen Statusgewinns akzeptierte. Darüber, ob sie eine genuine Zuneigung zum König entwickelte oder ihre Liebe nur vorgab, können wir uns kein Urteil erlauben.

Kann man Anne Boleyn als Feministin bezeichnen?

Insbesondere in den letzten Jahren und gerade auch im Netz wird Anne Boleyn verstärkt als »Feministin avant la lettre« interpretiert: Eine Frau, die dem Rollenbild ihrer Zeit voraus gewesen sein soll und für sich selbst einstand, eine Selfmade-Königin mit progressiven Ideen. Dagegen lässt sich berechtigterweise einwenden, dass das Konzept »Feminismus« im 16. Jahrhundert natürlich nicht existiert hat und diese Vorstellung grundsätzlich anachronistisch ist. Und obwohl Anne durch ihre eigene Beharrlichkeit und ihren Charakter in die extraordinäre Position einer Königin gelangt ist, war es allein die Macht des Königs, der sie diese verdankte. Wie abhängig sie davon war, zeigte sich nicht zuletzt an ihrem Sturz. Inwiefern sie als Königin die Begrenzungen ihrer traditionellen Rolle überschritt, ist Interpretationssache; allerdings handelte es sich in der Tat um eine politisch sehr involvierte Königin. Anne Boleyn hatte nachweislich ein großes (und letztlich vielleicht zu großes) Selbstbewusstsein. Und wir wissen, dass Anne in ihrer Jugend in Mechelen (am Hof von Margarete von Österreich) und in Frankreich mit progressiven geistigen Strömungen in Kontakt kam und viele Frauen kennenlernte, die intellektuell und politisch herausragend UND von Männern anerkannt waren. Möglicherweise lernte sie sogar das proto-feministische Werk »Das Buch von der Stadt der Frauen« von Christine de Pizan kennen, das bereits im 14. Jahrhundert verfasst wurde; vielleicht diskutierte man im Umfeld von Marguerite de Valois über die Stellung der Frau. Nichtsdestotrotz war Anne am Ende eine Frau ihrer Zeit und konnte diesen Rahmen nur bedingt sprengen. Aber ich schließe mich der Ansicht an, die Alison Weir im Nachwort ihres Romans vertritt: Anne Boleyn hätte den Feminismus als Konzept verstanden, und es hätte zu ihrem Selbstverständnis gepasst (S. 510). Im Sinne der historischen Genauigkeit sollte man sie nicht so nennen, aber wahrscheinlich wäre sie heute in der Tat eine Feministin.

War Anne wirklich schon Anfang 30, als sie Heinrich VIII. heiratete?

Aus den Quellen wissen wir von zwei möglichen Geburtsdaten: Entweder ist Anne im Jahr 1501 oder im Jahr 1507 geboren. Nun könnte man das für ein unwichtiges Detail halten. Allerdings macht es durchaus einen Unterschied (nicht zuletzt für die Interpretation ihres Charakters), ob Heinrich sich in eine junge Frau von Anfang 20 oder eine gestandene Erwachsene nah der 30 verliebte, ob Anne bei der Geburt ihres ersten Kindes 26 oder 32 war und ob sie mit Ende 20 oder Mitte 30 gestorben ist. Die weitaus größere Gruppe der Historiker favorisiert die ältere Anne mit dem Geburtsjahr 1501. Der Hauptgrund: Das Mindestalter für Hofdamen war in der Regel 12-13 Jahre, und Anne ging 1513 nach Flandern an den Hof von Margarete von Österreich. Dass sie da erst 6 oder 7 Jahre alt war, ist unwahrscheinlich (wenngleich nicht unmöglich). Auch ein eigenhändiger, erhaltener Brief aus jener Zeit deutet eher auf einen Teenager als ein Kind hin. Aber: Anne wurde, als das Verhältnis mit dem König begann, von den Zeitgenossen vielfach als »junge Frau« beschrieben. Ob man diese Eigenschaft bei einer annähernd Dreißigjährigen hervorgehoben hätte, ist fraglich. Und vor allem wollte Heinrich Anne heiraten, weil er sich Hoffnungen auf gesunde Söhne machte. Zur damaligen Zeit waren 30 Jahre aber am absolut oberen Ende des Altersspektrums für die Geburt des ersten Kindes, und Anne wäre bei der Geburt ihrer Tochter dann schon so alt gewesen wie Katharina von Aragón bei ihrer letzten Schwangerschaft. Ob Heinrich dieses Risiko eingegangen wäre? Vielleicht schon, denn Annes Nachfolgerin Jane Seymour war bei ihrer Hochzeit ebenfalls bereits 28 (und wurde trotzdem als »junge Dame« bezeichnet). Hätte Anne mit 35 Jahren zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung bereits am Ende des gebärfähigen Alters gestanden, so wäre sie im anderen Fall gleich alt gewesen wie die Rivalin, die sie ersetzte (was ihren Sturz noch ein Stück perfider machen würde).

Ich war lange überzeugt von den Argumenten der »1501«-Seite, bin aber in letzter Zeit ins Wanken geraten. Vor allem fällt ins Gewicht, dass zwei sehr glaubwürdige Quellen für das Geburtsjahr 1507 sprechen: William Camden, der am Lebensende von Elizabeth I. eine Chronik verfasste und Zugang zu vielen heute verlorenen Quellen hatte, gibt dieses Datum an. Und die Herzogin von Feria, eine enge Vertraute von Annes Stieftochter Mary und Zeitgenossin von Anne, dürfte ebenfalls über korrekte Informationen verfügt haben. Sie sagte aus, dass Anne noch keine 29 Jahre alt war, als sie das Schafott bestieg. Und da sie Anne mehr als feindlich gesinnt war, hätte sie sie wohl kaum absichtlich jünger gemacht. Das und die Gebärfähigkeit sind aus meiner Sicht die stärksten Argumente, die für das Jahr 1507 sprechen. Letzte Gewissheit werden wir aber, sofern wir nicht noch auf unentdeckte Quellen stoßen, niemals haben.

War Anne enttäuscht über die Geburt ihrer Tochter Elizabeth?

Im Roman von Alison Weir ist Anne so enttäuscht, nur eine Tochter zur Welt gebracht zu haben, dass sie keine Bindung zu Elizabeth aufbaut und sich auch nicht wirklich für sie interessiert. Ob das so war, können wir nur schemenhaft aus den Quellen rekonstruieren. Viel Zeit mit ihrer Tochter hat Anne nicht verbracht, Elizabeth war bei der Hinrichtung ihrer Mutter noch keine drei Jahre alt. Schon im Alter von drei Monaten (!) erhielt Elizabeth einen eigenen Hofstaat und lebte in einem eigenen Haushalt, gesäugt von einer Amme und großgezogen von sorgfältig ausgewälten Bediensteten. Dies unterlag der Autorität des Königs, es war aber ganz normal, dass Prinzessinnen nicht bei ihren Eltern aufwuchsen. Wir gingen also fehl, das als einen Mangel an Mutterliebe seitens Anne zu interpretieren. Dass Elizabeth nicht der ersehnte Sohn war, enttäuschte die Eltern sicherlich, dennoch wurde auch ihre Geburt gefeiert und Heinrich VIII. demonstrierte seine Zuneigung zu ihr öffentlich – nicht zuletzt machte er sie zur offiziellen Erbin und versuchte, schon früh eine prestigeträchtige Heiratsvereinbarung für sie zu treffen.

Das so genannte Armada-Portrait, das Elizabeth I. von England ca. 1588 zeigt.
Elizabeth I. als Herrscherin. Anne wäre darauf sicher stolz gewesen! (Bildquelle3)

Von Anne wissen wir, dass sie Unsummen ausgab, um ihre kleine Tochter standesgemäß auszustatten, und dass sie auch in regem Briefkontakt mit Lady Bryan, der Erzieherin von Elizabeth, stand. Und die Frage, was nach ihrem Tod mit der Prinzessin geschehen würde, scheint sie beschäftigt zu haben. Für den 30. April 1536 ist in den Quellen nachweisbar, dass es einen Streit zwischen den königlichen Eheleuten gab. Vom Inhalt überliefert der Augenzeuge Alexander Alesius nichts, aber Anne soll, Elizabeth in den Armen haltend, flehend auf Heinrich eingeredet haben. Und ihrem Kaplan, Matthew Parker, nahm sie schon am 26. April 1536 das Versprechen ab, sich um Elizabeth zu kümmern (und sie wahrscheinlich im Sinne der protestantischen Reform zu erziehen). Bis an sein Lebensende fühlte er sich daran gebunden. Anne schien also ganz genau zu wissen, welches Vermächtnis sie für ihre Tochter anstrebte. Zweifelsohne hätte sie einen Sohn bevorzugt, aber wir können zumindest nicht erschließen, dass Elizabeth ihr nicht wichtig war. Und ganz sicher wäre sie mächtig stolz, wenn sie wüsste, dass ihr Plan am Ende aufging und ihre Tochter tatsächlich Königin wurde.

War Anne schuldig?

Die Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass Anne die ihr zur Last gelegten Vergehen nicht begangen hat. (Eine Ausnahme ist G.W. Bernard, dessen Argumentationskraft aber nicht über »Manchmal stimmen Gerüchte ja auch« hinausreicht.) Ihre Verurteilung geschah mit einer solchen Hast, dass selbst Beobachter wie der Botschafter Chapuys, der Anne aus vollem Herzen hasste, die Anklage für unglaubwürdig hielt. Und der Lordkanzler Cromwell brüstete sich später damit, Annes Sturz geplant und orchestriert zu haben. Die beiden hatten enorme politische Differenzen entwickelt, die sich zum Kampf um Leben und Tod steigerten. Dazu passt, dass neben Anne und ihrem Bruder vier weitere Männer hingerichtet wurden, und zwar nicht irgendwelche, sondern (mit Ausnahme von Mark Smeaton) politisch einflussreiche Höflinge, die alle zur Boleyn-Fraktion gehörten. Hätte man ihr den Ehebruch mit weniger Männern vorgeworfen, wären die Anschuldigungen glaubwürdiger gewesen. Zudem können mehr als zwei Drittel der in der Anklageschrift genannten Daten nicht stimmen: Entweder Anne oder der jeweils beschuldigte Mann befanden sich nachweislich gar nicht am selben Ort, zudem war Anne an vielen der aufgezählten Tage gerade hochschwanger oder hatte unmittelbar davor entbunden. Nicht zu vergessen, dass eine Königin kaum je allein war, ihre Hofdamen aber nicht als Mittäterinnen angeklagt wurden. Es liegt daher nahe, dass mit dem Sturz der Königin auch ihre wichtigsten Parteigänger (und Gegner Cromwells) gezielt ausgelöscht wurden. Der Verdacht wurde ihnen absichtlich und mit wenig Substanz angehängt.

Die vermeintlichen Beweise, die verräterischen Aussagen, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als aus der Kontrolle geratenes höfisches Flirten, dessen Zweideutigkeiten bewusst missverstanden werden. Anne scheint das klar gewesen zu sein, als sie viele dieser Konversationen im Tower Revue passieren ließ: Ganz offenbar hatte sie ihre spitze Zunge nicht immer im Griff und lieferte mit unbedachten Aussagen die Steilvorlage für die Anschuldigungen des Verrats. Sie stand unter immensem Stress und hatte zudem womöglich nach einer just erlittenen Fehlgeburt einen chaotischen Hormonhaushalt, was laut Alison Weir erklären würde, weshalb die eigentlich so clevere Anne ihre Zunge nicht im Griff hatte. Für Cromwell waren diese plötzlich nicht mehr unschuldig interpretierten Aussagen ein gefundenes Fressen. Sie passen zu dem Hochmut, den Anne immer wieder gezeigt hat. Dennoch sagte sie nach ihrer Verurteilung und bei ihrer letzten Beichte, sie habe zwar dem König gegenüber nicht immer den Gehorsam gezeigt, den sie ihm geschuldet hätte, sich jedoch nie körperlich gegen ihn versündigt. Dieser Aussage ist große Bedeutung beizumessen, denn Anne als tiefgläubige Frau hätte vermutlich nicht bei ihrer letzten Beichte gelogen, um ihren Namen reinzuwaschen. Folgt man dieser Annahme, bleibt natürlich die spannende Frage, ob Heinrich an ihre Schuld glaubte oder ob er Cromwell gar beauftragt hatte, Anne aus dem Weg zu räumen. Ich bin der Ansicht, dass er die Anschuldigungen für wahr hielt – weil sie ihm in den Kram passten und einen einfachen Ausweg aus seiner Ehekrise bedeuteten, und weil sie ihm geschickt eingeflüstert wurden. Ich denke aber, dass Cromwells Intrige deshalb auf fruchtbaren Boden fiel und nicht, dass Heinrich ihr Initiator war.

Sah Anne das Unheil kommen?

Anne Boleyn im Tower.
Eine romantisierende Darstellung von Anne im Tower. Tatsächlich wechselten sich Trauer, Wut und Verzweiflung ab, bis sie zu einer stoischen Akzeptanz ihres Schicksals fand. (Bildquelle4)

Am 1. Mai 1536 wohnten Heinrich und Anne noch dem traditionellen Festtagsturnier bei. Mittendrin erhielt der König eine Nachricht (deren Inhalt wir nicht kennen) und verließ das Turnier, ohne noch einmal mit Anne zu sprechen. Am nächsten Tag wurde sie verhaftet. Während dies sehr abrupt erscheint, haben wir dennoch den Eindruck, dass sie irgendetwas ahnte. Seit ihrer Fehlgeburt im Januar und der Tändelei des Königs mit Jane Seymour muss ihr bewusst gewesen sein, wie fragil ihre Position war – nicht zuletzt, weil auch Katharina von Aragón gestorben war und der König frei davon gewesen wäre, zu seiner ersten Frau zurückkehren zu müssen. Das angeregte Gespräch mit dem König, das Alexander Alesius beobachtete, und ihre Bitte an Matthew Parker, er möge sich um Elizabeth kümmern, falls ihr etwas geschehe, deuten ebenfalls darauf hin. Die ungeheure Anklage und ihr Todesurteil hat sie mit Sicherheit so nicht vorausgesehen, aber dass ihre Gegner an ihrem Sturz arbeiteten oder der König sie zu Gunsten einer anderen verstoßen könnte, muss für sie in Betracht gekommen sein. Und obwohl sie erst nach ihrer Verhaftung über die Details informiert wurde, dürfte ihr vorher nicht entgangen sein, dass die Mitglieder ihres Haushalts verhört wurden, Heinrich lange Sitzungen mit seinen Beratern verbrachte und sich manch einflussreicher Höfling von ihr distanzierte.

Und die persönliche Frage zum Schluss: War Anne eine liebenswerte Person?

Anne Boleyn hat als historische Figur, als Ikone der Tudor-Zeit eine unglaubliche Sogwirkung. An ihr zeigen sich die untrennbare Verknüpfung von Politik und Privatem in der Renaissance, Charakterstärke und Tragik und die unendlichen Deutungsmöglichkeiten eines relativ obskuren Lebens. Während ich sie also für eine faszinierende Person halte und man angesichts des an ihr verübten Unrechts unweigerlich Mitgefühl empfindet, ist die Frage nach persönlicher Sympathie wiederum komplexer. Anne war sicherlich keine abgrundtief böse Frau, aber ebensowenig ein Engel. Mein Eindruck von ihr, der sie wiederum so interessant macht, ist ein zutiefst menschlicher: Ihren Freunden, Anhängern und Getreuen gegenüber war Anne eine fürsorgliche Herrin und Freundin, setzte sich für sie ein und fühlte mit ihnen mit. Mit ihren Gegnern aber kannte sie kein Pardon und auch die Behandlung ihrer Stieftochter Mary zeigt, dass sie sehr skrupellos sein konnte, wenn sie sich bedroht fühlte. Ambition und ein gewisser Hochmut treffen bei Anne auf Unsicherheit; ihr Einsatz für fromme und wohltätige Zwecke wiederum zeigt eine sehr freundliche Ader. Man will sie nicht zur Feindin gehabt haben; ob man sie aber gerne als Freundin hätte, ist schwer zu sagen. Ich finde die zusammenfassende Charakterisierung ihres Biographen Eric Ives sehr treffend:

She had been a remarkable woman. She would remain a remarkable woman even in a century which produced many of great note. […] [W]hat does come to us across the centuries is the impression of a person who is strangely appealing to the early twenty-first century. A woman in her own right – taken on her own terms in a man’s world; a woman who mobilized her education, her style and her presence to outweigh the disadvantages of her sex; of only moderate good looks, but taking a court and a king by storm. Perhaps, in the end, it is Thomas Cromwell’s assessment that comes nearest: intelligence, spirit and courage.

Eric Ives, The Life and Death of Anne Boleyn, S. 359.

Sie war eine bemerkenswerte Frau. Sie blieb eine bemerkenswerte Frau, selbst in einem Jahrhundert, das viele von großem Format hervorbrachte. […] Was durch die Jahrhunderte zu uns dringt, ist der Eindruck einer Person, welche auf das frühe 21. Jahrhundert seltsam reizvoll wirkt: Eine Frau aus eigener Kraft – zu ihren eigenen Bedingungen in einer Welt der Männer; eine Frau die ihre Bildung, ihren Stil und ihr Auftreten einsetzte, um die Nachteile ihres Geschlechts aufzuwiegen; nur von mittelmäßiger Schönheit, aber dennoch einen Hof und einen König im Sturm erobernd. Vielleicht ist es am Ende die Einschätzung von Thomas Cromwell, die ihr am nächsten kommt: Intelligenz, Temperament und Courage.

eigene Übersetzung

Rezension: »Anne Boleyn« von Alison Weir

Cover des Romans "Anne Boleyn" von Alison Weir.
Alison Weir, Anne Boleyn, Headline.

Die Besprechung zu Alison Weirs Roman über Katharina von Aragón findet ihr hier. Der Stil hatte mir nicht so gut gefallen, aber ich war naturgemäß neugierig auf Band zwei und darauf, wie die Autorin meine Lieblingskönigin darstellen würde. Und die Lektüre entpuppte sich als wahre Achterbahnfahrt! Wie auch bei »Katharina von Aragón« wurde ich mit dem Stil einfach nicht warm. (Versuchsweise habe ich Band 2 auf Englisch gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass es bei Band 1 nicht an der Übersetzung lag.) Besonders im ersten Teil des Romans fehlt es an Dialogen und Innensichten, weil sich Weir auf das Nacherzählen von Sachverhalten und Ereignissen beschränkt. Während ich ihre Darstellung auf der Inhaltsebene von Beginn an interessant fand, hat mich die Schreibe so gelangweilt, dass ich beinahe abgebrochen hätte. Mit der Zeit wurde wenigstens der Anteil der Dialoge etwas größer, sodass ich mich widerwillig damit abgefunden habe. Dennoch sei gesagt: Wer einen lebendig geschriebenen, emotional packenden Roman sucht, ist hier falsch.

Dass mich das Buch dann doch noch abgeholt hat, ist nur in Teilen den schriftstellerischen Fähigkeiten von Alison Weir und primär der ungebrochen faszinierenden Protagonistin zu verdanken. Was man der Autorin aber anrechnen muss, ist ihre Nähe zu den Quellen und den historisch überlieferten oder wissenschaftlich plausibel belegten Ereignissen. Das Buch ist gespickt mit bekannten Zitaten und Begebenheiten, und sie bemüht sich wirklich um eine ausgewogene Annäherung an Anne und ihre Zeitgenossen.

Zunächst hatte ich den Eindruck, dass Alison Weir Anne gegenüber nicht gerade wohlwollend eingestellt ist, was ich abschließend aber revidieren würde. Sie scheut lediglich nicht davor zurück, die weniger vorteilhaften Charakterzüge zu zeigen, die wir den Quellen aber durchaus entnehmen können. Anne war eben nicht nur charismatisch, intelligent und charakterstark, sondern auch nervös, skrupellos, scharfzüngig und berechnend. Das macht sie für mich aber nicht weniger faszinierend und bewundernswert! Vielmehr erscheint sie dadurch menschlich und nahbar und vor allem sehr viel realistischer als in vielen tendenziösen, entweder rein positiven oder rein negativen, anderen Darstellungen. Auch, wenn ich nicht allen von Alison Weir dargestellten Details vollständig zustimme, bin ich am Ende der Lektüre doch zu dem Schluss gekommen, dass sie der Komplexität von Annes Persönlichkeit gerecht geworden ist und diese so eingefangen hat, wie ich sie mir größtenteils vorstelle. Und dennoch wurde ich immer mal wieder aus der Immersion gerissen, was zeigt, dass Weir in der Fiktion einfach schwächer ist als im Sachbuchbereich. Das beginnt bei der enorm dilettantischen Schilderung von Anne, die sich zu Beginn der Handlung im Spiegel betrachtet (dermaßen ausgelutscht) und zieht sich durch viele weitere ungelenke Szenen. Und beispielsweise wird im ersten Viertel des Buches der zusätzliche Fingernagel immer wieder als Makel erwähnt, der Anne selbst sehr stört, dann kommt er aber bis zum Schluss nie wieder vor – als hätte die Autorin einfach vergessen, diesen Handlungsstrang eröffnet zu haben. So sehr sie sich also bemüht, alle überlieferten Sachverhalte einzubauen, drängt sich manchmal der Verdacht auf, dass sie manche davon zu mechanisch und lieblos abgehakt hat. Richtig beeindruckt hat sie mich erst ganz am Ende, mit der bislang einfühlsamsten, grausamsten und ergreifensten Schilderung von Annes Tod, die ich je gelesen habe.

Wer über den äußerst zähen Stil hinwegsehen und tief in das Leben von Anne Boleyn eintauchen will, ist mit »Anne Boleyn – A King’s Obsession« (die deutsche Übersetzung ist bei Ullstein erschienen) gut beraten. Für Tudor-Enthusiasten und Boleyn-Fans eröffnet das Buch durchaus interessante Einsichten und eine weitgehend glaubhafte Einbindung der historischen Quellen, wenngleich es als für sich stehender Roman große Schwächen hat. Deshalb kann ich aktuell auch nicht versprechen, dass ich die anderen vier Bände über Heinrichs Ehefrauen tatsächlich noch abarbeiten werde …

Alison Weir: Anne Boleyn, erschienen 2018 im Headline Verlag und 2020 in deutscher Übersetzung bei Ullstein.

>>Link zum Verlag<<

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Literatur

Bernard, G.W.: Anne Boleyn: Fatal Attractions, 2011.

Bernard, G.W.: The Fall of Anne Boleyn, The English Historical Review 106/420, 1991.

Bordo, Susan: The Creation of Anne Boleyn. In Search of the Tudors’ Most Notorious Queen, 2015.

Deselms, Alexandra Elise: A ›Princely Lady‹: The Religion, Power and Identity of Anne Boleyn, Ursidae: The Undergraduate Research Journal at the University of Northern Colorado 3/3, 2014.

Ives, Eric: Anne Boleyn and the ›Entente Évangélique‹, François Ier et Henri VIII. Deux princes de la Renaissance (1515-1547), 1995.

Ives, Eric: Faction at the Court of Henry VIII: The Fall of Anne Boleyn, History 57/190, 1972.

Ives, Eric: The Fall of Anne Boleyn Reconsidered, The English Historical Review 107/424, 1992.

Ives, Eric: The Life and Death of Anne Boleyn. ›The Most Happy‹, 2010.

Norton, Elizabeth: The Anne Boleyn Papers, 2013.

Walker, Greg: Rethinking the Fall of Anne Boleyn, The Historical Journal 45/1, 2002.

Weir, Alison: Mary Boleyn. ›The Great and Infamous Whore‹, 2012.

Weir, Alison: The Lady in The Tower, 2010.

Fundierte Internetseiten

Claire Ridgway, Anne Boleyn Files: https://www.theanneboleynfiles.com/

Natalie Grueninger, On The Tudor Trail: http://onthetudortrail.com/Blog/

Historiker Gareth Russell über Annes Alter: https://garethrussellcidevant.blogspot.com/2010/04/age-of-anne-boleyn.html

  1. Mögliches Gemälde der Anne Boleyn, aus dem späten 16. Jahrhundert, von einem unbekannten Künstler, National Portrait Gallery London, NPG 668, gemeinfrei für nicht-kommerzielle Zwecke, https://www.npg.org.uk/collections/search/portrait.php?search=ap&npgno=668&eDate=&lDate=, Zugriff am 18.11.2018.
  2. Leonardo da Vinci, Francesco Melzi zugeschrieben, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=78645105, Zugriff am 16.05.2021.
  3. Das sogenannte Armada-Portrait, ca. 1588, George Gower zugesprochen, http://www.luminarium.org/renlit/elizarmada.jpg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28313, Zugriff am 18.11.2018.
  4. Anne Boleyn im Tower, von Édouard Cibot – Musée Rolin, Autun, France, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3951184, Zugriff am 16.05.2021.

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