Warum wir historische Stoffe spannend finden, obwohl wir den Ausgang bereits kennen
Spoiler – wer hasst sie nicht? Egal, ob es um den Mörder am Ende eines Krimis, die Frage, wer den eisernen Thron gewinnt oder den Sieger des letzten Duells zwischen Harry Potter und Voldemort geht, gilt es als Todsünde, anderen den Ausgang einer Geschichte zu verraten. Der Grund ist naheliegend: Wir wollen mitfiebern und uns von der Auflösung überraschen lassen. Bei historischen Romanen, Filmen oder Serien sind wir dagegen grundsätzlich schon gespoilert, denn wir wissen ja, wie die Geschichte verlaufen ist und welche Schicksale die historischen Protagonisten ereilten. Was soll daran also spannend sein?
Natürlich kann man historische Romane lesen, um etwas zu lernen. Eingefleischte Geschichtsfans haben aber oftmals schon einen beträchtlichen Wissensschatz zu den Epochen, Themen und Figuren, die in historischen Romanen vorkommen. Wir beschäftigen uns also mit Altbekanntem, wenn wir zu den Büchern greifen. Und das bedeutet, dass wir den Ausgang oft schon kennen. Die Geschichte gibt vor, wer lebt oder stirbt, wie Schlachten ausgehen, wer den Thron erringt. Auch, wenn alle Romane natürlich einen mehr oder minder großen Anteil Fiktion enthalten, sodass wir zumindest mit den erfundenen Protagonisten bis zur letzte Seite mitfiebern können, steht der Verlauf der Rahmenhandlung meist fest und lockt uns spannungstechnisch nicht mehr hinter dem Ofen vor. Oder? Ich finde es nämlich höchst spannend, einer Geschichte zu folgen, deren Eckpunkte mir bereits bekannt sind. Bei einem Krimi oder Thriller funktioniert das weniger, bei historischen Romanen (oder Filmen) habe ich damit aber kein Problem. Geschichte kann also gar nicht spoilern! Ich nenne die Gründe dafür den Empathie-Faktor und den Wie-Faktor.
Der Empathie-Faktor
Wir lesen, um uns einzufühlen, um eine Geschichte mitzuerleben und ganz nah an den Emotionen der Figuren dran zu bleiben. Für dieses Eintauchen in die Vergangenheit sind historische Romane perfekt: Ginge es lediglich um die Geschehnisse selbst, wären wir mit einer wissenschaftlichen Abhandlung besser beraten. Die fiktionalisierte Schilderung aber erlaubt es uns, das Erzählte wirklich lebendig vor Augen zu sehen und mit den Protagonisten mitzuleiden. Bei typischen Liebesromanen ist das ganz ähnlich: Wir wissen, dass die Verliebten am Ende zueinanderfinden, trotzdem nimmt es uns emotional mit, den Weg dorthin zu verfolgen. Nicht viel anders ist es bei historischen Stoffen.
Ein Beispiel: Ich habe die Serie »The Tudors« bestimmt schon fünf Mal gesehen, trotzdem muss ich bei der Hinrichtung von Anne Boleyn am Ende noch genauso heulen wie beim ersten Mal. Obwohl schon immer klar war, dass ihr dieses Ende bevorsteht, habe ich eine solche Bindung zu der Figur aufgebaut, dass ich mich in sie hineinversetzen und entsprechend mitfiebern konnte. Mein Wissen gegenüber ihrem Unwissen, was ihr Schicksal betrifft, hat das höchstens noch spannender gemacht. So geht es mir auch mit allen Romanen, die sich maßgeblich auf die Biographie einer realen Persönlichkeit stützen.
Zum Aspekt des Nacherlebens gehört auch die Ausschmückung mit Details, der Aufbau einer realistischen Atmosphäre. Meine Gedanken dazu habe ich bereits im Artikel zur Authentizität in historischen Romanen dargelegt. Der möglichst realistische, echte Eindruck eines historischen Romans trägt für mich sehr zur Immersion und damit wiederum zum Spannungsaufbau bei. Man könnte das auch den Zeitmaschinen-Faktor nennen.
Der Wie-Faktor
Ein weiterer großer Anteil an Spannung ergibt sich aus dem Spiel mit der Erwartung des Lesers – die dieser nur haben kann, wenn er den Stoff kennt. Wie wird das historische Ereignis auserzählt? Wie werden die Personen dargestellt? Allein aus der Wahl einer bestimmten Perspektive kann sich eine ganz neue Darstellungsweise ergeben, die beispielsweise unsere Sympathien lenkt und uns das vermeintlich Bekannte neu bewerten lässt.
Das ist auch deshalb ein wichtiger Punkt, weil »die Geschichte« ja keineswegs immer aus fest definierten Ereignissen besteht, über die wir uns alle einig sind. Oft genug ist umstritten, was genau passiert ist oder wie es dazu kam. Zu sehen, für welche Deutung, welche Variante sich ein Autor entscheidet, kann enorm interessant sein. Ist die gezeigte Version schlüssig und plausibel, vielleicht auch überraschend? Wird mit verschiedenen Spekulationen gespielt? Könnte es so gewesen sein?
Und natürlich können auch die fiktiven Protagonisten für Spannung sorgen, wenn sie in die realen Ereignisse hineingewoben werden. Nicht selten werden damit Lücken gefüllt, offene Fragen beantwortet oder bekannte Geschehnisse abgerundet. Das trägt außerdem dazu bei, die bekannten, aber bisweilen als abstrakt empfundenen historischen Begebenheiten wiederum nahbarer zu machen. Und auch hier ist es unser Vorwissen gegenüber dem Unwissen der Figuren, das uns nervös an die Sofakante rutschen lässt: Vielleicht geht es gerade aufwärts im Leben der Protagonisten und sie blicken in eine vermeintlich rosige Zukunft. Wir aber wissen, dass der wohlgesonnene König sterben, dass bald eine blutige Revolution ausbrechen oder eine andere, historisch verbürgte, Katastrophe hereinbrechen wird.
No Spoiler Alert: Ikonen der Geschichte
Für mich liegt der Reiz gerade in der Wiederholung. Viele Personen und Ereignisse haben im Lauf der Zeit eine gewisse Ikonizität erhalten und wir kennen sie nicht nur aus der Überlieferung selbst, sondern auch aus Gemälden, Filmen, Theaterstücken und anderen Bearbeitungen. Und oft haben diese Darstellungen unser Bild vom jeweiligen Geschehen entscheidend geprägt – es ist ikonisch geworden. Haben wir es mit einer neuen Adaption zu tun, egal ob Film, Serie oder Buch, erwarten wir eine Aktualisierung unserer bisherigen Erfahrung, die sich gleichzeitig in Einklang bringen muss mit dem, was wir bereits davon gesehen haben. Gefällt uns das, erweitert es nicht nur unsere Geschichtsbild, sondern auch den Kanon seiner Repräsentationen.
Wenngleich die großen Eckpunkte der Geschichtsschreibung uns also nicht als Spoiler hinter dem Ofen hervorlocken werden, kennen wir natürlich trotzdem selten jedes einzelne Detail auswendig. Auch das hat seinen Reiz: Nämlich den, direkt im Anschluss nachzuforschen, was stimmt und was womöglich eine kreative Anreicherung war (Stichwort Atmosphäre). Und rein zufällig ist das auch genau das, was ich hier auf Geschichte in Geschichten tue. Als ich mir das Format seinerzeit überlegt habe, kam ich überhaupt nicht auf die Idee, dass meine Hintergrundberichte die historischen Romane spoilern könnten. Geschichte enthält keine Spoiler, so habe ich es schon immer gesehen. Darüber hat sich auch noch niemand beschwert (jedenfalls nicht bei mir), trotzdem habe ich recht schnell darüber nachgedacht, wie ich damit umgehen sollte.
Der Anlass war, dass ich mich mit einer Freundin über den Film »The Imitation Game« ausgetauscht habe. Eine Freundin hatte ihn gerade gesehen, ich kannte ihn noch gar nicht. Mir war aber die Biographie von Alan Turing vage bekannt und so unterhielten wir uns darüber, wie tragisch Turings Leben verlief. Bis sich eine dritte Freundin einschaltete: »Euch ist schon klar, dass ihr uns anderen gerade den Film gespoilert habt?«
Auf die Idee, dass die Realität den Film spoilern könnte, wäre ich niemals gekommen – nach diesem Gespräch habe ich darüber überhaupt erst nachgedacht und mich gefragt, ob das für manche Leser auch auf Geschichte in Geschichten zutrifft. Selbst, wenn ich es anders sehe, will ich das natürlich nicht. Deshalb halte ich es mittlerweile so, bestimmte Artikel mit dem Hinweis zu versehen, dass sich die historischen Ereignisse sehr eng mit der Handlung des Romans decken. Das ist vor allem in den historischen Romanen der Fall, die sich an den Biographien bekannter Figuren orientieren. Wer hier unvoreingenommen die Geschichte lesen will, kann dann direkt meine Rezension lesen – die ist immer spoilerfrei. Und wenn es fiktive Protagonisten und Handlungsstränge gibt, verrate ich natürlich sowieso nie, was dabei herauskommt. Denn das wäre, im Gegensatz zur Beschreibung historischer Ereignisse, tatsächlich ein Spoiler.
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