Szene in Paris

Die Wikipedia des 18. Jahrhunderts | Peter Prange: Die Philosophin

Ein Buchprojekt zwischen Absolutismus und Aufklärung

Philosophie, Vernunft und Freigeister – kaum eine Epoche hat unser modernes Denken so geprägt wie die Aufklärung. Heute, wo wir beinahe uneingeschränkten Zugang zu Informationen und Wissen haben, ist es kaum mehr vorstellbar, dass einem einfachen Nachschlagewerk eine so massive Sprengkraft zugeschrieben wurde – wie der französischen Enzyklopädie, hinter deren Entstehung ganze Lebensgeschichten stecken.

1. Eine Frau und ein Buch

Eine solche Lebensgeschichte zeichnet Peter Prange in seinem Roman „Die Philosophin“. Die junge, unehelich geborene Sophie Volland hat in ihrem Leben schon viel erlebt und viel verloren, als sie sich von Gott und der Welt verlassen nach Paris durchschlägt. Sie kellnert im Café Procope, wo sich die Denker der Zeit treffen, und lernt 1747 Denis Diderot kennen. Trotz ihrer Gefühle für ihn geht sie eine Vernunftehe mit Antoine Sartine ein, der bei der Pariser Polizei Karriere macht und ein entschiedener Gegner des bis dato monumentalsten verlegerischen Projektes ist, an dessen Spitze Diderot steht: der Enzyklopädie.

Tafel am Café Procope in Paris

Das traditionsreiche Café Procope in Paris existiert noch heute. Auf dieser Tafel sind die prominentesten Gäste vermerkt, und die Enzyklopädisten werden in der 6. Reihe von unten erwähnt.

(Bildquelle1)

Die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (etwa: Enzyklopädie oder Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe) ist heute ein Sinnbild der Aufklärung und umfasst 28 Bände und 11 Tafelbände mit insgesamt fast 73.000 Artikeln, die von mehreren 100 Autoren verfasst wurden. Zum Vergleich: Die französischsprachige Wikipedia umfasst am 18.05.2017 bei 16.959 aktiven Nutzern 1 871.256 Einträge. Allein Diderot verfasste während der Arbeit am ersten Band beinahe 2000 Artikel.2 Wer war der Mann, den wir heute vor allem wegen dieser Herausgeberschaft kennen?3

2. Eine Idee wird geschaffen

Gemälde von Denis Diderot

Denis Diderot, dessen Name wie kein zweiter mit der Enzyklopädie verbunden ist.

(Bildquelle4)

1713 geboren, machte der Sohn eines Messerschmieds zunächst eine Ausbildung bei den Jesuiten von Paris und erhielt sogar die niederen Weihen, bevor er sich vom katholischen Glauben abwandte und seine atheistischen Vorstellungen herausbildete.5 Er entwickelte sich zu einem Libertin, der ein schöngeistiges Leben führte und zwar stets in Geldnöten steckte, seine Freiheiten aber durchweg genoß. Daran hinderte ihn auch seine Ehe nicht. Er verliebte sich in seine verwitwete Nachbarin, die katholische Anne-Toinette Champion, die er 1743 gegen den Willen beider Familien heiratete. Ein Fehlgriff, denn die wenig gebildete Gattin blieb Hausfrau und missbilligte die intellektuellen Aktivitäten ihres Mannes. Trotz der vier Kinder war die Ehe recht unglücklich.6 Nicht zuletzt, weil Diderot auf wohlhabende Gönner verzichtete und sich eher als «armes Genie» sah. Er knüpfte Freundschaften mit unter anderem Jean-Baptiste d’Alembert und Jean-Jacques Rousseau. Zusammen mit dem Verleger André Le Breton entwickelte er das Projekt der Enzyklopädie. Zunächst als Übersetzung eines Wörterbuches aus dem Englischen gedacht, entstand daraus bald eine riesige wissenschaftliche Unternehmung.7

Riesig war auch die Arbeit an dem Mammutvorhaben. Nicht nur mussten namhafte Intellektuelle zur Mitarbeit gewonnen werden, vor allem musste die gesamte Konzeption stehen, bevor ein Wort geschrieben werden konnte. Es galt, alle Artikel alphabetisch zu sortieren, die Querverweise einzuplanen – selbstverständlich von Hand.8 In Zeiten digitaler Datenverarbeitung kann man sich kaum vorstellen, was das bei Abertausenden von Artikeln für einen Aufwand bedeutet haben muss.

3. Radikale Ansichten und die Zensur

Inhaltlich legten die Enzyklopädisten ihr Hauptaugenmerk neben der Philosophie auf Handwerke und Produktionsprozesse – eine aufklärerische Bedeutungsverschiebung, hatten vergleichbare andere Werke meistens hauptsächlich die Geschichten von Königen und Heiligen erzählt.9 In vielerlei Hinsicht also war hier etwas Neues unterwegs. Die gebildete Elite versprach sich von der Ankündigung der Enzyklopädie eine radikale Auseinandersetzung mit der Monarchie, sodass die Zahl der Vorbestellungen für den ersten Band rasant wuchs.

Ein Diagramm des menschlichen Denkens, 1780.

Diese Darstellung von 1780 greift auf, wie die Enzyklopädisten das menschliche Wissen strukturieren wollten.

(Bildquelle10)

Im Roman begleitet Sophie die Erstellung der Enzyklopädie während aller Höhen und Tiefen und lernt einmal mehr, welche Macht Bücher entfalten können. Das mussten auch die realen Protagonisten am eigenen Leib erfahren. Bereits 1749 wurde Denis Diderot für ein halbes Jahr inhaftiert, weil er in seinen Schriften die Religion in Frage gestellt hatte, und wurde nur dank reger Fürsprache seiner Freunde freigelassen – nicht zuletzt, weil die Enzyklopädie beträchtliche wirtschaftliche Gewinne versprach.11

Titelseite des ersten Bandes der französischen Enzyklopädie.

Die Titelseite des ersten Bandes der Enzyklopädie. Die letzte Zeile verweist auf das königliche Druckprivileg, das dem Werk zunächst gewährt worden war.

(Bildquelle12)

Die ständige Bedrohung durch die Obrigkeit hinderte die Enzyklopädisten mitnichten daran, ihre Meinungen in ihrem Werk kundzutun, wenn auch eher auf Umwegen. Besonders in den Beschreibungen unbekannter, damals relativ exotischer Kulturen zogen sie deren religiöse Bräuche ins Lächerliche, was als metaphorischer Angriff auf den Katholizismus und die christliche Lehre zu verstehen ist.13 Natürlich war nicht jeder Artikel aufrührerisch geprägt, viele, deren Inhalte den Alltag betreffen, lasen sich vollkommen harmlos. Dennoch waren auch die Gegner der Enzyklopädie nicht von gestern und erkannten die Tricks und Kniffe, mit denen die Autoren ihre Ideen zu verstecken versuchten. Besonders die konservativen Jesuiten machten gegen das Projekt Stimmung und hoben dessen subversiven Charakter hervor. Tatsächlich erreichten sie eine Beschlagnahmung der Manuskripte, und Diderot stand der Gefahr einer neuerlichen Verhaftung gegenüber.14

3.1. Fürsprecher in allerhöchsten Kreisen

Es ist prominenter Unterstützung zu verdanken, dass das Projekt doch noch fortgesetzt werden konnte. Eine fundamentale Rolle spielte der königliche Oberzensor Chrétien de Malesherbes, der der Enzyklopädie das königliche Druckprivileg gewährte und dafür sorgte, dass die Texte zwar offiziell der Zensur unterworfen, aber nicht gänzlich verboten wurden.15 Eine weitere Fürsprecherin gewannen die Enzyklopädisten mit Madame de Pompadour, der berühmten Mätresse des Königs. Als bürgerliche Geliebte von Ludwig XV. stand sie selbst im Kreuzfeuer des katholischen Lagers, zumal sie eng mit den Aufklärern und der intellektuellen Elite verbunden war.16 In einem Brief bittet Diderot die Favoritin, sich für das ehrenhafte Werk einzusetzen:

Wir wollen keine Verteidiger, wir wollen nur Richter. Seien Sie der unsrige, Madame, und seien Sie zugleich unser Anwalt, wenn Sie es für angebracht halten, denn angebrachter erscheint mir nichts. Die Wahrheit und Philosophie werden keine Feinde mehr haben, wenn Geist und Schönheit ihre Verteidigung übernehmen.17

Zunächst bedauerte die Marquise, dass sie nichts tun könne, wenn das Buch antikirchliche oder antikönigliche Lehren beinhalte, in diesem Fall sei ihr die Einmischung zu gefährlich. Voltaire beschreibt in einer Anekdote schließlich, wie sie es doch schaffte, dem König das verpönte Werk schmackhaft zu machen. Bei einem Abendessen sei das Gespräch darauf gekommen, wie wenig man doch von den Dingen des Alltags verstünde, egal, ob es dabei um Schießpulver, Schminke oder Damenstrümpfe ginge. Wie nützlich wäre es, wenn das Wörterbuch, das die Antwort auf all diese Fragen beinhaltet, nicht beschlagnahmt worden wäre! Der König habe die Exemplare herbeischaffen lassen, und tatsächlich seien alle gesuchten Begriffe in der Enzyklopädie gefunden und der Beweis ihrer Qualität erbracht worden. Ob diese Begebenheit sich genau so zugetragen hat, ist freilich nicht bekannt, aber sie zeigt, mit welcher Eleganz Madame de Pompadour den König in die gewünschte Richtung zu lenken vermochte.18

Madame de Pompadour mit der Enzyklopädie.

Auf dem Gemälde der schönen Mätresse sind die Bände der Encyclopédie im Hintergrund eindeutig zu erkennen.

(Bildquelle19)

3.2. Höhen und Tiefen

Auch die Sophie in Peter Pranges Roman steigt in höhere gesellschaftliche Kreise auf und lernt Malesherbes und die königliche Mätresse kennen. Wo sie kann, setzt sie sich für das Herzensprojekt ein. Gleichzeitig bleibt ihre Beziehung zu Diderot schwierig, dem die nervenaufreibende Arbeit seelisch und körperlich zusetzt. In der Realität wurden die Artikel nach der Abwendung des Verbotes sanfter, Kritik wurde noch subtiler eingearbeitet, außerdem berief man sich auf anerkannte philosophische Autoritäten, wie etwa den Theoretiker Montesquieu.20

Portrait von Malesherbes

Malesherbes, der Oberzensor, ohne dessen Hilfe die Enzyklopädie vielleicht nie entstanden wäre. Trotz seiner Verdienste sollte er später unter die Räder der Revolution geraten.

(Bildquelle21)

Dennoch blieb die aufwändige Arbeit ein Kampf, und besonders Diderot haderte mit sich. Im Gegensatz zu seinen Freunden war er mit seinen 44 Jahren kaum für seine eigenständigen literarischen Werke bekannt, sondern wurde vor allem für die Herausgeberschaft der Enzyklopädie wahrgenommen. Deshalb reduzierte er seine Mitwirkung an den Beiträgen.22 Doch auch das Verhältnis der Enzyklopädisten untereinander war von zunehmenden Spannungen geprägt. Nach einem Attentat auf den König war das Klima in Frankreich für die Freidenker rauer geworden, alle hatten persönliche Probleme und unterschiedliche Ansichten, das alles strapazierte die Nerven. „Die Bande der Freundschaft zwischen den Enzyklopädisten, ihre größte Kraftquelle, waren zerschlissen.“23

Portrait Ludwigs XV. im vollen Ornat.

König von Gottes Gnaden: Ludwig XV. lässt nicht daran zweifeln, dass er an der Spitze des Staates steht.

(Bildquelle24)

In diese düstere Situation passte es, dass der Weiterverkauf der Enzyklopädie im März 1759 wieder verboten wurde. Gerade in den Querverweisen und den religions- und monarchiekritischen Passagen wurde eine zerstörerische Kraft für die Gesellschaft gesehen.25 Deshalb urteilt der Königliche Staatsrat:

Die Vorteile solch eines Werkes für Künste und Wissenschaften können den irreparablen Schaden für Glauben und Sittlichkeit niemals aufwiegen.26

Damit war das Projekt tot – wieder einmal, nun aber scheinbar endgültig. Diderot schrieb am 18. August 1759:

Was übrigens meine Arbeit anbelangt, so wird mir vielleicht das neue Hindernis, das sich den Verlegern in den Weg stellt und das für sie ein neuer Gegenstand der Verärgerung sein wird, nichts mehr zu tun übriglassen.27

4. Der endgültige Durchbruch

Glücklicherweise aber hatte die aufklärerische Sache noch immer ausreichend Unterstützer in mächtigen Positionen, sodass einige Schlupflöcher geschaffen werden konnten. Besonders Louis de Jaucourt übernahm mehr Verantwortung für die Produktion des Werkes. Er reduzierte die Polemik und verstärkte die nüchternen, wissenschaftlicheren Gesichtspunkte. Ihm ging es darum, die Funktion eines Nachschlagewerkes zu erfüllen.28 Gerade die Handwerksverfahren wurden so akkurat dargestellt, dass sich die Arbeitsabläufe in den damaligen Gewerben anhand der Illustrationen teilweise perfekt rekonstruieren lassen.29

Portrait von Jean-Jacques Rousseau

Nicht alle Enzyklopädisten blieben während der langen Schaffensjahre dabei. Besonders Rousseau zerstritt sich mit vielen seiner einstigen Freunde.

(Bildquelle30)

Trotz aller Widrigkeiten war es irgendwann geschafft. Die letzten Bände der Enzyklopädie lagen druckfertig vor. Noch einmal wurden einige Artikel zensiert, um das Gesamtwerk an der Obrigkeit vorbeizuschleusen. Die Jesuiten, die erbittertsten Gegner, hatten sich inzwischen selbst ins politische Abseits manövriert. Die Enzyklopädie wurde zur Avantgarde für alle, die sich von der Kirche und dem königlichen Régime abgrenzen wollten. Zum Schein wurde das verbotene Werk außerhalb von Paris gedruckt, die entsprechenden Behörden drückten die Augen zu, und so war es 1766 vollbracht. Die Bücher wurden vollends an die Subskribenten ausgeliefert.31 Man darf nicht glauben, dass das unermessliche Wissen darin nun für die gesamte Bevölkerung zugänglich war. Längst noch nicht alle Menschen konnten lesen, und das Mammutwerk kostete so viel Geld, dass es sich nur die Oberschicht leisten konnte. Aber – die Enzyklopädie war in der Welt.

Während die Freigeister am Vorabend der Vernunft diesen Meilenstein der Aufklärung feierten, hielt sich Denis Diderot zurück. Schon lange kränkelte er, und vor allem war er des Projekts überdrüssig geworden. Er wünschte sich nur noch ein ruhiges, harmonisches Leben.32 Die jahrzehntelange Arbeit an der Enzyklopädie beschrieb er als verschwendete Zeit. Sie habe ihm nur Verachtung und Verfolgung eingebracht und ihn dabei von wichtigeren Arbeiten abgehalten. Ironischerweise wird dennoch gerade dieses Werk heute als so bedeutsam und einflussreich gesehen.

5. Das Phantom Sophie Volland

Die Konflikte mit der Obrigkeit stehen der Fertigstellung der Enzyklopädie auch im Roman im Weg. Auch das persönliche Glück von Sophie ist stets mit Diderot und den Philosophen verknüpft. Im Buch ist sie eine junge, von Schicksalsschlägen geprägte Frau, die sich mit ihrer Intelligenz und Wissbegierde einen Platz in den gebildeten Kreisen von Paris erobert. Aber wer war sie wirklich?

Über die echte Sophie Volland ist kaum etwas bekannt. Sie lebte von 1716 bis 1784 und stammte aus einer wohlhabenden bürgerlichen Familie. Eigentlich hieß sie Louise-Henriette. Den Namen Sophie, der „Weisheit“ bedeutet und zu dieser Zeit sehr beliebt war, gab ihr wohl Denis Diderot höchstselbst.33 Sie blieb unverheiratet und lebte mit ihrer verwitweten Mutter zusammen. Dass sie die Sommer auf einem Landsitz außerhalb der Hauptstadt verbrachten, war Anlass für einen regen Briefwechsel mit Diderot. Leider sind nur jene erhalten, die er an sie schrieb.34 Weshalb Sophie keine eigene Familie gründete, und wie sie als Person war, was sie dachte, all das bleibt ihr Geheimnis. Von ihr verfasste Briefe sind nicht erhalten, lediglich das Testament hat die Zeit überdauert. Dadurch wissen wir immerhin, dass Sophie Volland wirklich gelebt hat und nicht nur eine Phantasiefigur von Denis Diderot war. Auch Bilder haben wir keine von ihr, es ist lediglich die Rede davon, dass sie eine Brille trug.35

Schatten einer Frau

Ohne Diderots Briefe wüssten wir kaum von der Existenz Sophie Vollands, und auch so bleiben die Details über ihr Leben und ihre Person weitgehend im Dunkeln.

(Bildquelle36)

Aus Briefen lässt sich zurückdatieren, dass sich die beiden wohl um 1755 kennenlernten (und nicht, wie im Roman, bereits 1747). Unter welchen Umständen, ist unbekannt. Sicher ist, dass zwischen Sophie Volland und Denis Diderot eine fundierte Liebe entstanden sein muss, die bis an beider Lebensende bestehen blieb. Diderot war kein ausgemachter Frauenheld, aber auch kein Kind von Traurigkeit. Sophie muss eine bemerkenswerte Person gewesen sein, wenn es ihr gelang, den Philosophen dauerhaft an sich zu binden. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens war sie bereits etwa 39 Jahre alt, nicht erst zwanzig, wie im Roman. Somit begann die Beziehung für beide erst spät im Leben – immerhin sprechen wir vom 18. Jahrhundert.37

Trotz des erwachsenen Alters stellte Sophies Mutter ein Problem in der Beziehung der beiden dar, schließlich handelte es sich um die Affäre eines verheirateten Mannes mit einer ledigen Frau (unabhängig davon, dass der Zeitpunkt für eine Familiengründung für Sophie sowieso schon verstrichen war).38 In einem seiner Briefe an die Geliebte lamentiert Diderot:

Ich verspreche mir nicht viel von der Zukunft. Die Seele Ihrer Mutter liegt unter den sieben apokalyptischen Siegeln. Auf ihrer Stirn steht geschrieben: Geheimnis. Ich habe in Marly zwei Sphinxen gesehen und wurde sofort an sie erinnert.39

Mit der Zeit scheint sich Madame Volland jedoch mit dem Verhältnis abgefunden zu haben, und einige eindeutige Anspielungen Diderots weisen darauf hin, dass wir keineswegs von einer rein platonischen Beziehung ausgehen sollten.40 Auch die Ehefrau des Philosophen schien die Situation akzeptiert zu haben. Zwar war sie für ihre Wutausbrüche gefürchtet, immerhin aber kümmerte sich Diderot trotz der Spannungen um seine Familie und sorgte für sie. Aus den Briefen geht definitiv hervor, dass Anne-Toinette von dem Verhältnis wusste.41

Es gibt keine Belege dafür, dass Sophie in irgendeiner Form an der Enzyklopädie mitgewirkt hat. Zwar erzählt Diderot immer wieder von seiner Arbeit daran, nie aber wird ein Anteil Sophies erwähnt. Wir wissen aber, dass sie ihm in allen Bereichen des Lebens eine unschätzbare Ratgeberin war. Er tauschte sich mit ihr über Politik, Romane, Theater, Moral- und Gewissensfragen aus. Sie muss also über eine überaus gute Bildung verfügt haben, die dem Paar hochgeistige Konversation ermöglichte.42
Diderot hatte in Sophie also die Gefährtin fürs Leben gefunden. Seine Ehe mit Toinette verbot es ihm, die Geliebte zu heiraten oder ein Familienleben mit ihr zu führen, aber dennoch konnte er ihr all seine Gedanken anvertrauen.

Und wie ein gewöhnliches Paar hatten die beiden auch ganz normale Probleme. In einem Brief zitiert Diderot die Worte, die Sophie ihm offenbar geschrieben hatte:

Er sagt mir zärtliche, süße Dinge; er fühlt sie; er denkt sie; doch sagt er sie nur zu mir?43

Woraufhin er entrüstet antwortet:

Nein, Mademoiselle; ich liebe nur Sie, ich werde stets nur Sie lieben, und ich werde niemals eine andere glauben machen, daß ich sie liebenswürdig finde, ohne mir dies vorzuwerfen.44

Offensichtlich galt es hier, einen Anflug von Eifersucht abzuwenden. Die Textstellen lassen uns der Beziehung der beiden kurz näherkommen – sie sollten fest miteinander verbunden bleiben, bis sie 1784 kurz nacheinander starben.

6. Rezension

Cover des Romans "Die Philosophin" von Peter Prange

Peter Prange: Die Philosophin, Fischer.

Peter Prange greift die belegten Entwicklungen rund um die Enzyklopädie und auch einen Großteil der realen Protagonisten auf. Was die Hauptperson, Sophie, angeht, ist der Roman jedoch beinahe völlig fiktiv. Das ist der Tatsache geschuldet, dass über ihr Leben so wenig bekannt ist, was Prange in seinem Nachwort selbst deutlich macht.

Es geht nicht darum, ihr Leben nachzuerzählen. „Die Philosophin“ ist ein Roman über eine Frau, wie sie hätte sein können, und nicht, wie sie wirklich war. Das wäre ein unmögliches Unterfangen gewesen. So wurde das Buch zu einem faszinierenden Abbild einer widersprüchlichen Zeit, in der einerseits großartige philosophische Konzepte erdacht wurden, die der Revolution den Weg bereiteten – andererseits herrschten konservative Kräfte und tiefe Religiosität noch immer vor.

Die Personen sind vielschichtig gezeichnet, auch jene, die wenig Sympathien hervorrufen, haben eine nachvollziehbare Geschichte. Alle, einschließlich Sophie, haben Ecken und Kanten. Und alle sind irgendwie miteinander verknüpft, ihre Lebenswege an unterschiedlichsten Punkten verwoben. Ich persönlich liebe Geschichten, bei denen am Ende alles irgendwie zusammenläuft, Verbindungen deutlich und Verwicklungen entwirrt werden. Das ist hier großartig gelungen. Die Liebesgeschichte zwischen Diderot und Sophie bildet zwar den Kern des Romans, ich würde ihn jedoch nicht darauf reduzieren, da die umgebende Thematik detailliert recherchiert und lebendig umgesetzt ist – die Geschichte ist vielfältig und verhandelt die gängigen Fragen der damaligen Zeit.

Peter Prange hat ein starkes Buch über eine spannende Zeit geschrieben. Über diesem Panorama der historischen Ereignisse, Persönlichkeiten und Geistesströmungen steht das andere Buch, die Enzyklopädie. Das monumentale Werk, das es vermochte, den König und die alte Ordnung in Aufruhr zu versetzen, das eine enorme Sprengkraft für die damalige Zeit hatte. Und das Werk, das Denis Diderot nach seiner Vollendung verdammen sollte, das ihm am Ende dennoch gerade den Nachruhm sicherte, nach dem er sein Leben lang gestrebt hatte.

Peter Prange: Die Philosophin, erschienen im Jahr 2015 bei Fischer, 560 Seiten.*

>>Link zum Verlag<<

* Die Angaben beziehen sich auf die Neuausgabe, ich besitze die Taschenbuchausgabe, die 2004 bei Knaur erschienen ist.


 

  1. By Flickr: Jon And Megan – http://www.flickr.com/photos/97337741@N00/23524018/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6850799 (Zugriff am 20.05.2017).
  2. Blom, Philipp: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie (Die andere Bibliothek), Frankfurt am Main 2005, S. 85.
  3. Neben der Darstellung Blums findet sich eine ausführliche Biographie bei Lepape, Pierre: Diderot, 1991.
  4. By Louis-Michel van Loo, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3916635 (Zugriff am 21.05.2017).
  5. Blom, Das vernünftige Ungeheuer, S. 50-54.
  6. Ebd., S. 55-61.
  7. Ebd., S. 65-85.
  8. Ebd., S. 84-85.
  9. Ebd., S. 86-87.
  10. By Robert Benard (engraver) – Essai d’une Distribution Genealogique des Sciences et des Arts Principaux, 1769-1780 (parts found online at /encyclopedie.uchicago.edu, which were assabled and the whole is retouched), Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42274254 (Zugriff am 20.05.2017).
  11. Ebd., S. 93-112.
  12. By Long List of Contributors to the Encyclopédie – http://ets.lib.uchicago.edu/ARTFL/OLDENCYC/images, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66422 (Zugriff am 20.05.2017).
  13. Ebd., S. 142-144.
  14. Ebd., S. 168-173.
  15. Ebd., S. 168-173.
  16. Ebd., S. 173-174.
  17. Pleschinski, Hans (Hg.) / Madame de Pompadour: Briefe. Ich werde nie vergessen, Sie zärtlich zu lieben, München 2005, S.149.
  18. Ebd., S. 150-151.
  19. Von Maurice Quentin de La Tour, Musée du Louvre, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=464024 (Zugriff am 20.05.2017), Ausschnitt eigene Bearbeitung.
  20. Blom, Das vernünftige Ungeheuer, S. 207-208.
  21. Unbekannter Maler – http://www.herodote.net/Bio/bio.php?nom=Malesherbes, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21260844 (Zugriff am 21.05.2017)
  22. Ebd., S. 248.
  23. Ebd., S. 286.
  24. Von Hyacinthe Rigaud, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=784223 (Zugriff am 21.05.2017)
  25. Ebd., S. 312-313.
  26. Ebd., S. 314-315.
  27. Diderot, Denis: Briefe an Sophie, übers. von Gudrun Hohl (Die andere Bibliothek), Frankfurt am Main 1989, S. 35.
  28. Blom, Das vernünftige Ungeheuer, S. 327.
  29. Ebd., S. 355.
  30. By Maurice Quentin de La Tour, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24158 (21.05.2017)
  31. Ebd., S. 359-397.
  32. Ebd., S. 332.
  33. Diderot, Briefe an Sophie, S. 368.
  34. Ebd., S. 369.
  35. Ebd.
  36. By Biermann, Georg (1914) „Silhouettes“ in Deutsches Barock und Rokoko, 2, Leipzig: Verlag der Weissen Bücher, p. 733, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38916270 (Zugriff am 21.05.2017)
  37. Ebd.
  38. Ebd., S. 371.
  39. Ebd., S. 8.
  40. Vgl. ebd., S. 43.
  41. Vgl. ebd., S. 39.
  42. Ebd., S. 370.
  43. Ebd., S. 38.
  44. Ebd.

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