Wenn aus Geschichte(n) Wahrheit wird
Gehobene Literatur und moderne Klassiker stehen wahrlich selten auf meiner Leseliste. Aber als ich gesehen habe, dass mit „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky ein historischer Stoff, eine im Mittelalter angesiedelte Geschichte, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 stand, musste ich sofort zugreifen und will sie in diesem Beitrag vorstellen. Die Lektüre um den kindlichen Sebi, den undurchsichtigen Halbbart und ihr Dorf hat mir sehr gut gefallen, und einen konkreten historischen Bezug gibt es obendrein: die Schlacht am Morgarten. Diese ist gleichzeitig höchst bedeutsam für das Schweizer Nationalbewusstsein.
Wir befinden uns in der Talschaft Schwyz und schreiben das Jahr 1313. Sebi ist der kleinste von drei Brüdern. Geni ist vernünftig, übernimmt ein wenig die fehlende Vaterrolle und denkt nach, bevor er etwas tut. Poli dagegen ist impulsiv, prügelt sich gerne und träumt von einem Leben im Heer. Sebi wird meistens übersehen, er gilt als Finöggel, zu zart sogar für die harte Feldarbeit. Wissbegierig, wie er ist, wird er wohl ins Kloster Einsiedeln gehen, sagen alle. Einen Freund findet er erst, als der Halbbart ins Dorf kommt, ein Fremder mit zerschundenem Gesicht, der wenig von sich preisgibt und doch viel zu erzählen hat.
Vordergründig ist die Vergangenheit hier die Bühne, auf der Lewinsky seine Coming-of-Age-Geschichte spielen lässt. Wichtiger als die weltpolitischen Ereignisse des 14. Jahrhunderts ist der Mikrokosmos des Dorfes mit den Familien, die darin leben. Sebi ist ein noch eher kindlicher Beobachter, was sich an seiner Sprache ablesen lässt. Obwohl seine Aussagen manchmal ein wenig naiv daherkommen, kommentiert er das Geschehen mit bisweilen erstaunlicher Weisheit. Er ist auf der Suche nach sich selbst, und sein Weg dorthin öffnet uns ein Fenster in die Vergangenheit, das Lewinsky sehr überzeugend ausfüllt. Die unerbittliche Härte des einfachen Lebens schildert er glaubwürdig und detailliert. Da wird steiniger Boden beackert, wer auf einem echten Bett statt einem Strohsack schläft, gilt bereits als wohlhabend. In diesem Alltagseinerlei interessieren die Konflikte der Mächtigen kaum, und was der Halbbart von den Schlachtfeldern Italiens und den Städten des Heiligen Römischen Reiches erzählt, ist weit weg. Man lebt im Einklang mit der Natur, und das tut man fast gänzlich unberührt vom politischen Tagesgeschäft. Aber manchmal wird es selbst den genügsamen Bewohnern von Ägeri zu bunt.
1. Der Marchenstreit
Schon länger schwelt ein Streit mit dem Kloster Einsiedeln. Die Schwyzer müssen regelmäßig Arbeitsdienst leisten, zudem herrscht Unklarheit über die Gebietsgrenzen: Das Kloster macht bei seinen habsburgischen Schutzherren geltend, dass die Schwyzer zu Unrecht ihr Vieh auf dem Land des Klosters weiden lassen und dort die Wälder roden. Die Leute in den Dörfern kochen vor Wut. Dann kommt Sebis Onkel Alisi, ein waschechter Haudegen, aus dem Krieg zurück und mischt das Dorfleben gehörig auf. Unter seiner Führung wollen die Bewohner es den arroganten Mönchen im Kloster heimzahlen.
Ihr erinnert euch vielleicht an den Deutschen Thronstreit, der schon in einigen früheren Beiträgen Erwähnung fand (zum Beispiel in „Die Perlenfischerin“ oder „Krone des Schicksals“). Ein ähnlicher Konflikt mit einer uneindeutigen Doppelwahl beschäftigte im frühen 14. Jahrhundert die Parteien der Wittelsbacher und der Habsburger. Letztere standen zudem in schwelender Auseinandersetzung mit den Schweizer Eidgenossen Uri, Schwyz und Unterwalden. Habsburg wollte sich über die Freiheitsbriefe dieser sogenannten Waldstätte hinwegsetzen und einen geschlossenen Machtbereich schaffen.1 Auch Einsiedeln unterstand den Habsburgern. Dort wiederum gab es einen andauernden Grenzstreit mit den Bewohnern von Schwyz: Die Bauern ließen ihr Vieh immer wieder auf klösterlichem Gebiet weiden, um sich die Ländereien schleichend anzueignen. Deshalb hatte der Abt des Klosters den Bischof von Konstanz dazu gebracht, die Schwyzer mit dem Kirchenbann zu belegen. Als Rache dafür überfielen diese im Januar 1314 das Kloster und nahmen die Mönche für kurze Zeit in Geiselhaft.2
Das musste nun zwangsläufig die Habsburger auf den Plan rufen, denn diese waren die Schutzherren des Klosters und konnten einen solchen Angriff nicht unbeantwortet lassen. Gleichzeitig war ein Grund gefunden, militärisch gegen die Schweizer vorzugehen und sie ihrer Herrschaft unterzuordnen.4 Eventuell ging es auch darum, gegenüber dem Reichsvogt Werner von Homberg die Ansprüche auf Einsiedeln zu unterstreichen.5 Während Friedrich der Schöne mit dem Thronstreit 2.0 gegen Ludwig von Bayern beschäftigt war, zog dessen Bruder, Herzog Leopold, mit einem Heer in Richtung Ägerisee.
2. Die Schlacht am Morgarten
Im Roman herrscht schon vor der Ankunft der Habsburger bitterer Streit: darüber, wer vor Ort das Sagen hat und darüber, wie man gegen den Feind vorgehen sollte. Einer der Wortführer, der kein Pardon kennt, ist Sebis Onkel Alisi. Und Sebi lernt, dass es bei Geschichten mehr auf die Erzählung ankommt als darauf, wie sie sich wirklich abgespielt haben.
Bei den Ereignissen, die dann folgten, ist es schwierig bis unmöglich, das tatsächliche Geschehen vom Mythos zu unterscheiden. Ganz grob geschah wohl Folgendes:
Entlang des Ägerisees, durch den späteren Kanton Zug, marschierte Leopold mit seinen Fußsoldaten und Rittern in Richtung Schwyz. An einer Engstelle beim Morgartenberg geriet er in einen Hinterhalt der Waldstätter: Dem Heer wurde der Weg abgeschnitten und es wurde vom Berg aus attackiert. Manche Quellen berichten von herabrollenden Baumstämmen, andere von geworfenen Steinen. Dann griffen die Schwyzer, unterstützt von Uri und Unterwalden, im Nahkampf an und verursachten großes Chaos unter den Habsburgern, weil deren Schlachtordnung in dem engen Gelände nicht eingehalten werden konnte. Zudem gerieten die Pferde der Ritter in Panik und die Soldaten trampelten sich beim Versuch des Rückzugs gegenseitig nieder. Mit den schweren Rüstungen sollen auch viele Flüchtende im Ägerisee ertrunken sein. Herzog von Leopold von Habsburg kam zwar mit dem Leben davon, die militärische Expedition war damit aber zunächst beendet.6
In der Befreiungstradition der Schweizer nimmt die Schlacht am Morgarten eine herausgehobene Stellung ein und gilt als Fanal der verbündeten Eidgenossen gegen die repressive Übermacht. Deshalb sind auch die oft genannten Zahlen übertrieben: Ganz sicher rückte Herzog Leopold nicht mit einem Heer von 20.000 Soldaten an und es wurde auch nicht die gesamte habsburgische Ritterschaft getötet. Dass die Habsburger in die Flucht geschlagen wurden, war für die Eidgenossen dennoch bedeutsam und wurde deshalb zu einem ähnlich wichtigen Nationalmythos stilisiert wie die Geschichte von Wilhelm Tell und dem Rütlischwur. Eine ebenfalls gewichtige Rolle spielt der im Narrativ eröffnete Gegensatz der Stände: Die nur spärlich bewaffneten Bauern hätten mit dem Mut der Verzweiflung die Blüte des Ritterstandes besiegt, quasi David gegen Goliath. Entsprechend überzeichnet sind die Darstellungen der Schlacht aus dem 19. Jahrhundert.
Wie so oft spielt auch eine neuartige, erstmals eingesetzte Waffe eine Rolle: Im Fall von Morgarten ist das die Hellebarde, die zu einem wichtigen kriegerischen Instrument der Frühen Neuzeit wurde. Was es damit im Roman auf sich hat, verrate ich an dieser Stelle aber nicht.
3. Morgarten bis heute: Mythos und Wahrheit
Wie wichtig der Symbolcharakter des Ereignisses für die Lokalbevölkerung über Jahrhunderte bleibt, zeigt auch die zwischen 1780 und 1912 (!) vehement ausgetragene Debatte über die genaue Lage des Schlachtfeldes. Diese wird gar als der »zweite Morgartenkrieg« bezeichnet, der ähnlich wirr zugegangen sei wie die eigentliche Schlacht.9 Die Diskussion kulminierte kurz nach 1900 in der Suche nach einem adäquaten Standort für ein Denkmal. Die Hauptmotivation war lokalpatriotischer Natur, denn es ging darum, ob die Schlacht bereits auf dem Gebiet von Schwyz oder noch auf Zuger Land stattgefunden hatte. Die Untersuchungen der früheren Jahrhunderte sind uneins und halten sich entweder an die Beschreibung des Hinterhaltes (ergo nahe an einem Berghang) oder die der Ertrinkenden im Ägerisee (ergo in unmittelbarer Ufernähe). So kommt es, dass sich in dem Gebiet gleich zwei Denkmalorte befinden: Einerseits das »offizielle« Morgartendenkmal von 1908 direkt am See (gehört zu Zug) sowie die schon aus dem 16. Jahrhundert stammende Schlachtkapelle in der Gemeinde Sattel auf Schwyzer Gebiet. Auch, weil es für Touristen die attraktivere Lage war, entschied man sich 1906 für das Denkmal am See, woraufhin die Schwyzer aus dem Kommitee austraten und lieber ihre Kapelle renovierten.10
Mit Heeresmacht der stolze Leopold –
Österreichs Herzog – kam, dem Land unhold,
Rasch wollt’ bezwingen er die Bauernschar.
Gewarnt mit Pfeil von treuer Freundes Hand,
An dem man: »Hütet euch am Morgart’« fand,
Rasch eilte Schwyz dorthin, wo die Gefahr.
Trotz bot die Bauernschar dem Ritterheer,
Es sank in See zum Teil, war bald nicht mehr.
Nun blutgetauft die Schweizer Freiheit war.11
Der Standort bei Sattel wird gemeinhin als der wahrscheinlich korrekte betrachtet, auch wenn es verwundert, wie dies zu den Ertrinkenden im See passen will. Vielleicht haben aber auch beide Narrative irgendwie recht: Es ist möglich, dass die Chronisten der späteren Jahrhunderte zwei verschiedene Geschehnisse auf einen Ort verdichteten. Auch wenn das Habsburger Heer nur einige tausend Mann umfasste, müssen sie aufgrund der geographischen Begebenheiten in einem langgezogenene Tross marschiert sein. Es ist also denkbar, dass die Vorhut an der Engstelle bei Sattel von oben herab angegriffen wurde, aufgrund des Rückstaus dann aber die Flüchtenden knapp zwei Kilometer weiter hinten in den See gedrängt wurden. Eine andere Überlegung wäre, dass der Wasserstand des Ägerisees damals noch höher war und das Ufer oder zumindest ein Sumpf tatsächlich bis fast nach Sattel reichte. Neuere geologische Untersuchungen legen dies nahe, was bedeutet, dass der Berghang und der See einander zum Zeitpunkt der Schlacht weitaus näher waren und das Gelände deutlich enger ausfiel.12 Dann könnten die Soldaten tatsächlich im Rahmen des Angriffs ins Wasser geraten sein. »Welthistorisch« ist die Frage nach dem Standort vollkommen gleichgültig. Sie zeigt aber, wie die ganze Tradition rund um die Schlacht bei Morgarten, dass das historische Gedächtnis oft eigene Wege geht. So stellt auch Sebi im Roman fest, was mit einer guten Geschichte passieren kann: »Man wird sie bestimmt noch lang erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.«
4. Rezension
Man merkt schnell, dass »Der Halbbart« kein typischer historischer Roman im Sinne des Genres ist. Sein Ziel ist weniger, die historische Vergangenheit so aufleben zu lassen, dass wir als Leser völlig in sie eintauchen. Vielmehr verwendet er sie als erzählerischen Raum für die Geschichte von Sebis Weg aus der Kindheit und für die Botschaft, dass erst das Erzählen Wahrheit schafft. Ich als Nichtschweizer kannte die Schlacht bei Morgarten bis dato nicht. Aus meiner Sicht kann man den Roman in seiner Gänze nur nachvollziehen, wenn man das Ereignis und vor allem den widersprüchlichen Nationalmythos kennt – denn damit wird die stärkste Brücke in unsere Realität und unsere Gegenwart gebaut. Das ist sicherlich auch der Aspekt, der dem Roman seine besondere Relevanz verleiht.
Ohne diesen Bezug wäre mir »Der Halbbart«, obschon lesenswert, zu unkonkret geblieben. Und da ich nicht wusste, was es mit der Morgartenschlacht auf sich hat, war er mir das auch zunächst. Anfangs tut der Roman das, was auch das Leben in Sebis Dorf tut: Er plätschert so dahin. Gleichzeitig versinnbildlicht er damit die Situation dieser Waldstätter Bauern im Mittelalter, deren Alltag (wenn sie nicht gerade Kloster überfielen oder Habsburger mit Steinen bewarfen) auch nicht allzu spektakulär gewesen sein dürfte. Die Ankunft des mysteriösen Halbbarts (der nicht nur freundlich aufgenommen wird) ist da bereits ein besonderes Ereignis. Auch die Sprache von Sebi verliert irgendwann ein bisschen ihren Reiz. Der Duktus ist seinem Alter und seinem Bildungsgrad angepasst, dazu geprägt von Wiederholungen und Helvetismen. Trotz dieser beabsichtigten Gleichförmigkeit passiert dann ja aber doch immer etwas. Eines nämlich ist die Stärke des Romans: Wann immer er drohte, mir zu eintönig zu werden, hat er mich dann doch wieder gepackt und dafür gesorgt, dass ich weiterlesen wollte. Der ständige Wechsel zwischen der fast plakativen Vergangenheitskonstruktion und der immer durchscheinenden Metaebene hat mich aus verschiedenen Blickwinkeln über das Erzählte nachdenken lassen. Und ich glaube, genau das ist das Ziel des Romans.
So hielt der gemächlich daherkommende »Halbbart« doch einige Überraschungen für mich bereit und ich habe nicht zuletzt während meiner Beschäftigung mit der Schlacht am Morgarten wieder einiges über Geschichtsfiktionen und die Narrative von Nationalmythen gelernt. Wer diesen Hintergrund zumindest grob kennt und bereit ist, sich auf die etwas eigentümliche Erzähltechnik einzulassen, dem wird »Der Halbbart« sicherlich Vergnügen bereiten. Er zeigt schließlich, wie nützlich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist, weshalb ich es großartig finde, dass ein Roman dieser Sorte eine breitere Aufmerksamkeit erhält.
Charles Lewinsky: Der Halbbart, erschienen im August 2020 im Diogenes Verlag.
***
- Hans Rudolf Kurz: Schweizerschlachten, Berlin 1977, S. 9.
- Hans Rudolf Kurz: Schweizerschlachten, Berlin 1977, S. 9-10.
- Unbekannter Autor, eventuell D. Scheuchzer – Marcus Bourquin (Hg.): Die Schweiz in alten Ansichten und Schilderungen. Kreuzlingen / Konstanz 1968, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3973056, Zugriff am 23.11.2020.
- Hans Rudolf Kurz: Schweizerschlachten, Berlin 1977, S. 10.
- http://www.morgarten.ch/geschichte/hintergruende_und_bedeutung/, Zugriff a, 22.11.2020.
- Hans Rudolf Kurz: Schweizerschlachten, Berlin 1977, S. 13-15.
- Bendicht Tschachtlan, Tschachtlanchronik, Zentralbibliothek Zürich, Schweiz., gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=372605, Zugriff am 23.11.2020.
- Foto von Adrian Michael, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17248626, Zugriff am 23.11.2020.
- Christoph Henggeler: »Der dritte Morgartenkrieg«, Dissertation Zürich 1990, S. 3.
- http://www.morgarten.ch/region/das_morgartengelaende/das_denkmal/, Zugriff am 22.11.2020.
- Zuger Nachrichten Nr. 89 vom 1. August 1908, zitiert nach Christoph Henggeler: »Der dritte Morgartenkrieg«, Dissertation Zürich 1990, S. 1.
- Fabrizio Merz: Beeinflusste die Landschaft den Ausgang der Schlacht am Morgarten?, Masterarbeit 2013, online verfügbar unter http://www.morgarten.ch/fileadmin/user_upload/Morgarten-Homepage/pdfs_Texte_und_Fachartikel/Masterarbeit_MF_Landschaft_Schlacht_am_Morgarten.pdf.