Untergang der El-Argar-Kultur | Ursula Janssen: Rebellion *

Der erste Staat des Westens

[* Dieses Buch wurde mir als Rezensionsexemplar von der Autorin zur Verfügung gestellt. Der Themenschwerpunkt meines Artikels und der Inhalt meiner Rezension bleiben davon unberührt.]

Eine Kultur, die nur durch archäologische Funde und nicht durch schriftliche Quellen zu uns spricht, ist schwieriger zu erschließen. Trotzdem kann man sie in einen historischen Roman verwandeln, der sich sehr aktuell liest. Vor allem, wenn die Bevölkerung jener sogenannten El-Argar-Kultur sich gegen die Herrschaft auflehnte und sie dem Erdboden gleichmachte. Davon, wie diese dramatischen Ereignisse abgelaufen sein könnten, handelt »Rebellion. Chronik eines Untergangs« von Ursula Janssen. Ich habe bei der Autorin nachgefragt, wie der Roman entstanden ist.

Die El-Argar-Kultur: Ein Gemeinwesen in der Bronzezeit

Es brodelt in Walusipami, wenn auch kaum spürbar. Die Menschen werden von einem Priesterkönig regiert, ihr Leben verläuft nach strengen Regeln. Die Bauern müssen einen Großteil ihres Ertrages abgeben. Ein paar Rationen zu unterschlagen, wie es Tumarans Familie getan hat, ist bereits ein gefährlicher Akt des Widerstandes. Während für die Götter Stiere geopfert werden, müssen sich die einfachen Bewohner von Walusipami mit Gerstenbrei und Eichelmehl zufriedengeben. Der Unmut nimmt zu, aber die meisten fürchten die Konsequenzen und fügen sich.

Die sogenannte El-Argar-Kultur ist im heutigen Südostspanien zu verorten und existierte während der Bronzezeit, von etwa 2200 bis 1.550 v. Chr. Relevante Ausgrabungen im 19. Jahrhundert führten dazu, dass das Areal von der Größe Belgiens als eigenständiger Kulturkreis und oft auch als »der erste Staat des Westens« bezeichent wird. Das liegt auch an der ungewöhnlich starken Hierarchie innerhalb der Gesellschaft, die sich anhand der archäologischen Funde rekonstruieren lässt. Während es der Elite nicht schlecht ging, etwa Fleisch und Honig zu ihrer Ernährung gehörten, aß ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich vorrangig Getreidebrei.

Das Gebiet der El-Argar-Kultur mit den wichtigsten Fundstätten.
Die El-Argar-Kultur erstreckte sich entlang der fruchtbaren Flusstäler in Südspanien. (Bildquelle1)

Wenn alle ihren Platz haben, ist kein Platz für neue Ideen

Niosena ist Töpferin und wohnt im Handwerkerviertel der Stadt Iltir. Ihre Werkstatt wurde ihr vom Palast zugeteilt. Sie muss ihre Gefäße nach strengen Vorgaben herstellen, ohne Verzierungen, mit gleichmäßigen Formen. Dabei hat sie ein tägliches Soll zu erfüllen. Nachdem sie gegenüber einigen Gefangenen Mitleid gezeigt hat, muss sie um ihre Sicherheit fürchten.

Nicht nur die gesellschaftlichen Schichten waren streng geordnet: Besonders aufsehenerregend sind die Objektfunde der El-Argar-Kultur. Wer überbordende Ornamente und lebendige Darstellungen erwartet, liegt nämlich falsch. Die gefundenen Gegenstände, etwa Gefäße, sind fast gänzlich schmucklos. Klare Linien, einfache Formen, schematische Ausführung – das unterscheidet die Kultur von vielen anderen jener Zeit. Da die El-Argar-Kultur uns keine Schriften hinterlassen hat, wissen wir allerdings nicht, welches Weltbild genau hinter diesem Stil steckt, und können nur Mutmaßungen anstellen.

Ein Gefäß der El-Argar-Kultur.
Ein Gefäß der El-Argar-Kultur, wie es Niosena im Roman herstellt. (Bildquelle2)

Chronik eines Untergangs

Mutmaßungen gibt es auch über das Ende der El-Argar-Kultur, und diese sind noch spannender als alle anderen außergewöhnlichen Merkmale dieses Gemeinwesens. Denn bei den archäologischen Ausgrabungen wurde eine Brandschicht gefunden. Die Städte und Siedlungszentren wurden zerstört. Es gibt jedoch keinerlei Belege für kriegerische Handlungen. Deshalb ist die heutige Vermutung, dass das Ende der El-Argar-Kultur von innen erfolgte, als Resultat einer Revolution. Waren die Menschen unzufrieden gewesen mit dem Regime, hatten sich gegen die Herrschaft aufgelehnt? Alles deutet darauf hin.

Gräberfund der El-Argar-Kultur.
Eine Gräberfund aus El-Argar mit einer Gefäßbestattung in einem sogenannten pithos, einem großen Tonkrug. (Bildquelle3)

Mir war die El-Argar-Kultur vor der Lektüre gänzlich unbekannt, sodass ich viel gelernt habe. »Rebellion« hebt sich allein schon thematisch von den allermeisten historischen Romanen ab. Die Autorin Ursula Janssen war so lieb, mir noch einmal ausführlich von ihrer Recherche und der Entstehung der Geschichte zu berichten.

Nachgefragt bei Ursula Janssen

GiG: »Rebellion« spielt weit vor den Epochen, die normalerweise in historischen Romanen behandelt werden. Du bist Archäologin und hast damit einen professionellen Zugang zur El-Argar-Kultur. Was reizt dich an dieser frühen Zeit besonders? Weshalb wolltest du sie in einem Roman darstellen?

UJ: Die jüngeren Ausgrabungen von Stätten der El-Argar-Kultur haben hochinteressante – wenn auch nicht unumstrittene – Ergebnisse geliefert. Die Schlussfolgerungen der Ausgräber, denen zufolge eine hochgradig ungerechte und gewaltsame Kultur zu einem Aufstand und einem anschließenden völligen Neuanfang führt, hat mich sofort fasziniert. Es war wie ein Panoramabild, in dem nur noch die Protagonisten fehlten. Daher habe ich beschlossen, den Frauen und Männern, die damals gelebt haben könnten, Leben einzuhauchen.
Ich habe schon seit längerem mit der Idee gespielt, eine Dystopie zu schreiben. Allerdings liegt mir als Archäologin die Vergangenheit näher als die Zukunft. »Rebellion« hat mir die Möglichkeit gegeben, eine Dystopie zu schreiben, die in der Vergangenheit spielt.

GiG: Was war die größte Herausforderung daran, die Handlung in einer Zeit spielen zu lassen, die uns keine schriftlichen Quellen hinterlassen hat? Was unterschied deine Recherche hier von der Arbeit an »Die drei Betrüger«, deinem historischen Roman, der im 17. Jahrhundert spielt?

UJ: Das Fehlen von schriftlichen Quellen ist ein Hindernis für den Historiker, bietet aber der Schriftstellerin mannigfaltige Möglichkeiten: ich war frei zu spekulieren, eine vorgegebene Rahmenhandlung mit imaginären Charakteren zu füllen. Eigentlich genau das, was man als Archäologe manchmal gerne tun würde, aber nicht kann.
Die Vorgehensweise ist dabei eigentlich gar nicht so anders als bei historischen Romanen aus verschriftlichen Epochen: zunächst trage ich möglichst viele Quellen zusammen und recherchiere intensiv. Bei »Die drei Betrüger« war die Konstruktion des Romans dann genau umgekehrt: Die meisten Personen sind real, wir kennen Schriften sowohl von ihnen als auch über sie. Die Herausforderung war, diese oftmals sehr illustren Persönlichkeiten zusammen mit einer Reihe weiterer Fakten in einen kohärenten Plot zu verwandeln. Das Spiel mit Quellen und Zitaten hat mir dabei viel Spaß gemacht. In »Rebellion« hingegen »zitiere« ich die materiellen Hinterlassenschaften der El-Argar-Kultur.

GiG: »Rebellion« ist die Geschichte eines brutalen Regimes und seines Untergangs. Wir Leser*innen stellen uns die Vergangenheit generell sehr von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägt vor. Inwiefern sticht die El-Argar-Kultur hier heraus?

UJ: Sehr frühe Kulturen, die aus noch relativ kleinen Gruppen bestehen, beruhen oftmals mehr auf Konsens als wir uns das vielleicht vorstellen. Die El-Argar-Kultur, manchmal als »der erste Staat Westeuropas« bezeichnet, war insofern außergewöhnlich, dass die Ungleichheit so groß war, dass Mangelernährung und sehr hohe Kindersterblichkeit an der Tagesordnung gewesen sein müssen. Aufrecht erhalten wurde dieses System durch Gewalt, wahrscheinlich durch ein zentral organisiertes Militär, womöglich eine Art Kriegerkaste. Wir könnten daher ein bisschen überspitzt sogar von »der ersten Militärdiktatur Westeuropas« sprechen.
leichzeitig ist die El-Argar-Kultur ein Beispiel für frühe Umweltzerstörung durch massive Abholzung und Monokulturen, die letztendlich zu ihrem Untergang beigetragen hat.

GiG: Die Objektfunde der El-Argar-Kultur zeichnen sich durch eine eigentümliche Schlichtheit aus, auch im Roman thematisierst du die streng vorgegebenen Formen. Findet sich eine solche Schmucklosigkeit auch noch in anderen Kulturen der Bronzezeit? Wie lässt sich dieser besondere Stil vielleicht erklären?

UJ: Die Standardisierung der materiellen Kultur, also der Objekte, ist wirklich auffällig: schlichte Formen, kaum Dekoration, so gut wie keine figürlichen Darstellungen, und das alles gleichförmig in einem relativ großen Gebiet. Die Ausgräber von der Autonomen Universität Barcelona führen das auf einen zentral vorgegebenen Formenkanon zurück. Einen Grund dafür zu finden, habe ich eigentlich als eine der größten Herausforderungen empfunden. Warum gibt ein Staat vor, wie Alltagsobjekte auszusehen haben oder ob es Abbildungen geben darf? Die einzige Begründung, die ich dafür finden konnte, ist Religion: daher habe ich der El-Argar-Kultur eine Art ikonoklastischen Pietismus angedichtet, mit Bilderverbot und dem Monopol der Herrscher auf Dekoration und Kreativität als Mittel zur Macht.

Ein Diadem aus einem Grab der El-Argar-Kultur.
Ein Diadem, das zwar aus Gold, aber ebenso schmucklos ist wie die anderen Funde der El-Argar-Kultur. (Bildquelle4)

GiG: Wahrscheinlich stürzten die unterdrückten Bewohner*innen ihren Herrscher und brannten die Städte nieder. Wie ging es nach der Revolution in der Region weiter? Konnten die Menschen tatsächlich in einer gerechten sozialen Ordnung leben?

UJ: Das ist eine gute Frage: wir wissen es nicht genau. Klar ist, dass die materielle Kultur sich in der Zeit nach der Zerstörung der Städte komplett ändert, ohne dass es Anzeichen für eine Einwanderung einer anderen Bevölkerungsgruppe gibt. Die Formen, zum Beispiel der Keramikgefäße, werden individueller und weisen auch wieder Verzierungen auf. Die zerstörten Städte wurden nie wieder besiedelt; stattdessen verteilt sich die Bevölkerung auf kleinere Siedlungen. Ich kann mir schon vorstellen, dass die Menschen in einer weniger hierarchischen Gesellschaft glücklicher waren. Ich hoffe es zumindest.

GiG: Du schreibst, dass du Optimistin bist und Diktaturen immer untergehen. Gleichzeitig gab und gibt es immer neue Regimes, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basieren. Hältst du einen vollständigen Siegeszug der Demokratie grundsätzlich für möglich?

UJ: Einen vollständigen Siegeszug der Demokratie halte ich leider für illusorisch. Wie du schreibst: Es entstehen immer wieder neue Regimes. Aber sie halten nicht ewig. Mit diesem Buch wollte ich auch denjenigen Mut machen, die unter solchen Diktaturen zu leiden haben. Aufmerksame Leser werden einige Hinweise auf und Zitate von zeitgenössische Despoten finden. Mein Mann ist Iraner im Exil; nicht umsonst habe ich die El-Argar-Kultur auch als Theokratie gestaltet.

GiG: Du hast dich mit deinen bisherigen Büchern schon in ganz verschiedene Zeiten geschrieben. Was reizt dich als nächstes, und gibt es auch eine Epoche, mit der du dich gar nicht gerne beschäftigen magst?

UJ: Ich kann mir grundsätzlich die Beschäftigung mit jeder Epoche vorstellen. Im Moment schreibe ich an einem Roman, der im 10. Jahrhundert in den Handelsstätten der Seidenstraße und des Kaukasus spielt, und zwar einmal aus persischer Sicht (genauer gesagt, aus Sicht des noch sehr jungen Dichters Ferdausi) und einmal aus Sicht der Wolgawikinger, die 945 in das Kaspische Meer eindringen.
Hier greife ich ein Motiv auf, das sich eigentlich in jedem meiner Romane wiederfindet: die vielschichtigen Beziehungen zwischen Orient und Okzident. Das gilt natürlich für »Die Spur des Emirs«, aber auch für »Der Augenzeuge« und, in vielleicht geringerem Maße, für »Die drei Betrüger«. Selbst im Roman »Rebellion« gibt es einen entsprechenden Zusammenhang: Der Beginn der El-Argar-Kultur wird auf 2.200 v. Chr. datiert, was in etwa mit der Zerstörung von Troja II zusammenfällt. Es gibt verschiedene Hinweise auf Kontakt oder gar eine mögliche Herkunft aus diesem Gebiet. Daher habe ich die Hauptstadt »Wilusipami« getauft, was in der luwischen Sprache, die wahrscheinlich in Troja gesprochen wurde, »Troja des Westens« bedeutet.

GiG: Danke für das interessante Gespräch, liebe Ursula!

Rezension: »Rebellion« von Ursula Janssen

Cover des Romans "Rebellion" von Ursula Janssen.
Ursula Janssen, Rebellion.

Mit »Rebellion« habe ich persönlich Neuland betreten, denn die El-Argar-Kultur war mir vor der Lektüre gänzlich unbekannt. Die Idee, aus dem Verschwinden dieses Gemeinwesens eine Parabel zu machen, fand ich sofort reizvoll: »Rebellion« demonstriert die Zeitlosigkeit von Unterdrückung, aber auch von Emanzipation. Mit einem Mal erscheint diese lang vergangene Zeit gar nicht mehr so fremd. Und sogar das sehr aktuelle Thema »Umweltzerstörung« kommt vor: Es ist nachweisbar, dass sich die Landschaft im heutigen Spanien nie wieder von den Eingriffen erholte, die zu jener Zeit gemacht wurden – während wir doch gemeinhin denken, dass die Menschen damals noch im Einklang mit der Natur gelebt haben.

»Rebellion« ist ein kurzer, pointierter Roman, der sich flüssig liest. Die Autorin greift die archäologischen Erkenntnisse auf und füllt sie mit Leben. Man kann sich gut vorstellen, dass es seinerzeit so oder so ähnlich zugegangen sein könnte – der Einsatz von einem gewissen Maß an Fantasie ist dabei selbstverständlich, da wir schlichtweg auf viel weniger Quellen aufbauen können, als es bei vielen anderen Epochen der Fall ist. Ähnlich verhält es sich mit der Sprache: Ursula Janssen entscheidet sich für eine schnörkellose Ausdrucksweise, die einfach, aber modern klingt und nicht die Unmöglichkeit versucht, die damalige Zeit zu imitieren. Damit unterstreicht sie die Parabelhaftigkeit ihrer Geschichte, die sich so oder so ähnlich eben in jeder Epoche, von der Bronzezeit bis heute, abspielen konnte und kann. Man man daraus ableiten, dass sich die Menschheit leider kaum ändert und Unrecht und Ungleichheit niemals aus der Welt verschwinden. Man kann sich aber auch klarmachen, dass Menschen schon immer dagegen angekämpft und sich selbst unter den widrigsten Umständen für ihre Freiheit eingesetzt haben.

Mit »Rebellion« schafft es Ursula Janssen also, uns nicht nur eine recht unbekannte bronzezeitliche Kultur nahezubringen, sondern auch universelle Gedanken über das menschliche Zusammenleben und politische Strukturen auf kluge Weise unterzubringen. Die Autorin hat ein Händchen für solche Themen, sodass ich »Rebellion« gerne empfehle und schon sehr gespannt auf den nächsten Stoff bin!

Ursula Janßen, Rebellion, erschienen 2021 im Selbstverlag.

>>Link zum Buch<<

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  1. Archäologische Fundstellen der El-Argar-Kultur, vPanthera tigris tigris – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53838152, Zugriff am 26.06.2021.
  2. Luis García, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6883862, Zugriff am 26.06.2021.
  3. Proyecto.bastida – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30074735, Zugriff am 26.06.2021.
  4. Ángel M. Felicísimo from Mérida, España – Diadema de Caravaca, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=51253184, Zugriff am 26.06.2021.

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