Reliquienjagd | Dirk Husemann: Die Eispiraten

Der Leichentransport des Heiligen Markus

Ein absurdes Versprechen des Dogen von Venedig, seine vorwitzige Tochter, eine bunte Schiffsbesatzung, fiese Gegenspieler und eine schier unmögliche Mission. Der Roman „Die Eispiraten“ von Dirk Husemann vermischt zahlreiche Legenden und Geschichten: Wikinger, die mit ihrem Drachenboot übers Mittelmeer segeln, die ersten Experimente mit Speiseeis, den Diebstahl der Gebeine des Heiligen Markus… Und was, bei Thors magischem Hammer, hat Alexander der Große mit alldem zu tun?!

1. Nordmänner auf Abwegen oder wie das Speiseeis nach Italien kam

Wir schreiben das Jahr 828 n. Chr. Der Nordmann Alrik musste seine Heimat verlassen, da der Jarl, Anführer seines Dorfes, ihm nach dem Leben trachtet. Auch für den Kaiser von Byzanz hat er bereits gearbeitet. Gemeinsam mit seiner bunt gemischten Mannschaft aus Wikingern, Franken, einem Juden, Byzantinern, einem Nubier und einem Zwerg geht er inzwischen einem kuriosen Geschäft nach: Mit ihrem Langboot, der Visundur, transportieren sie Eis von den Hängen des Ätna nach Ravenna, wo es zu einer Süßspeise für Adelige verarbeitet wird. Alrik ist wie gemacht für diese Arbeit, denn die Visundur ist schneller als alle anderen Schiffe auf dem Mare Nostrum.

Wikinger? Wikinger!

Mein erster Gedanke war: Was bitte haben die Wikinger auf dem Mittelmeer verloren? Ein kurzer Blick in die Geschichtsbücher zeigt aber, dass die Nordmänner1 in der Tat bis in sehr südliche Gefilde vorgedrungen sind, allerdings etwas später als im Roman. Nachdem sie 793 n. Chr. recht überraschend das Kloster Lindisfarne an der englischen Küste geplündert hatten und fortan auf den britischen Inseln marodierten, wandten sie sich um die Mitte des 9. Jahrhunderts dem Frankenreich zu. Ganz Europa fürchtete bald die heidnischen Krieger, die mit ihren schnellen und wendigen Langschiffen sowohl das Mittelmeer als auch die Flüsse befahren konnten. Die Loire, die Rhône, der Rhein, kaum ein Gewässer war vor ihnen sicher. Von Calais über Lüttich und Köln bis nach Aachen plagten die Nordmänner die Menschen, und selbst bis nach Andalusien, wo damals Muslime herrschten, drangen sie vor. Mehrfach, zuletzt 885-886, belagerten sie Paris und ließen sich nur durch hohe Tributzahlungen von Karl dem Dicken (ja, echt!) zur Aufgabe bewegen, dann zogen sie weiter Richtung Burgund.2

Bildstein aus der Wikingerzeit, der ein Wikingerschiff zeigt.
Ein Bildstein mit Wikingerschiff im schwedischen Museum Gotlands Fornsal in Visby. (Bildquelle3)

Noch später, 988, fuhr eine Wikingerflotte bis zum Bosporus, dieses Mal allerdings in offizieller Mission. Die Skandinavier, die als Rus genannte Fürsten von Kiew über ein Gebiet im heutigen Russland herrschten, unterhielten schon lange Handelsbeziehungen zu den Byzantinern (Byzanz war das Oströmische Reich) in Konstantinopel.4 Schließlich bat Kaiser Basileios II., der sich ständig mit Bürgerkriegen auseinandersetzen musste, Wladimir I. um Beistand. Den bekam er auch (er verschwägerte sich zum Dank mit dem Fürsten von Kiew, der sein Reich zum Christentum konvertieren ließ), und zwar mit langanhaltendem Erfolg für die beteiligten Wikinger. Die besten Kämpfer der Skandinavier stellten bis zur ersten Eroberung durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 die Leibgarde des Kaisers und wurden Warägergarde genannt.5 Dass Alrik und seine Männer im Roman also ordentlich herumgekommen sind, ist keineswegs völlig erfunden, der historische Rahmen wurde lediglich um einige Jahrzehnte nach hinten verlegt.

Leckere Abkühlung

Und was ist an der Sache mit dem Eis dran? Tatsächlich wussten schon die Römer, dass man aus gefrorenem Wasser allerlei Feines herstellen konnte, wenn man es mit Honig, Früchten oder Milch vermischte. Die römische Oberschicht der Kaiserzeit ließ Gletschereis und Gipfelschnee von den Alpen importieren und lagerte die Vorräte in kühlen Kellern. Das Eis war so beliebt, dass der Philosoph Seneca vor körperlicher und geistiger Entkräftung warnte und auch der Arzt Galen6 anmahnte, die Leckerei nicht zu häufig zu genießen. Mit dem Untergang des römischen Reiches ging das Wissen um die Herstellung der kalten Köstlichkeit dort wohl verloren. Im sogenannten Orient, also dem entstehenden arabischen Kulturraum, war Speiseeis aber ebenfalls bekannt. Der Name Scherbet für eine der Spezialitäten ist auch bei uns heute noch als Sorbet geläufig.7

Durch die Araber gelangte die Spezialität im frühen Mittelalter schließlich wieder zurück nach Italien, entweder über das damals arabische Sizilien oder die Handelsmetropole Venedig. Nicht zufällig gilt Italien für uns Europäer heute als das wohl versierteste Land in Sachen Speiseeisherstellung. Aber auch in Byzanz kannte man das Dessert, denn Konstantinopel wurde tonnenweise mit Eis aus Kleinasien beliefert. In der Stadt am Bosporus gab es möglicherweise sogar „[d]en ältesten Handel mit Natureis“.8

Ein Verkäufer von Speiseeis im Rom des 19. Jahrhunderts.
Eisverkäufer in Rom, Darstellung um 1820. Ganz so professionell ging es im 9. Jahrhundert noch nicht zu. (Bildquelle9)

Buchstäblich an Fahrt gewann die Eisherstellung dann erst in der frühen Neuzeit, als man die Produktion durch die Entdeckung, dass das Zusetzen von Salpeter eine schnellere Kühlung bewirkte, vereinfachen konnte. Es war wohl Katharina de Medici, die das Eis so richtig salonfähig machte. Anlässlich ihrer Hochzeit wurde 1533 in Florenz Himbeer-, Zitronen- und Orangeneis gereicht. Und den Sizilianer, der die Leckereien kreiert hatte (und die Rezepte „wie ein Staatsgeheimnis“ hütete), nahm sie kurzerhand mit an den französischen Hof.10

Die Eiskultur steckte im 9. Jahrhundert in Italien also definitiv in den Kinderschuhen, als Delikatesse war die kühle Süßigkeit der Oberschicht aber schon gut bekannt. Wahrscheinlich wurden Schnee und Eis damals tatsächlich auch vom Ätna geholt. Unrealistisch ist das Geschäftsmodell unserer Eispiraten aus dem Roman also ganz und gar nicht, denn eines steht fest: Aufgrund der noch unzureichenden Lagerungs- und Kühlungsmöglichkeiten brauchte man definitiv schnelle Transportmittel, damit man nicht einfach mit sehr teurem Schmelzwasser am Bestimmungsort ankam…

2. Als Venedig noch Rialto hieß

Eis hin oder her, in einer Stadt an der Adria hat Giustiniano Participazio ein Problem. Er ist der Doge der Lagunensiedlung, aber es fehlt ihm an Herrscherqualitäten. Seine deutlich resolutere Tochter Matelda hat eine Idee, wie er die Gunst des Volkes gewinnen könnte: Die Gebeine des Heiligen Markus, Schutzpatron der Stadt, sollen aus dem fernen Alexandria überführt werden und in Rivo Alto ihre letzte Ruhestätte finden. Der Tribun Bonus von Malamocco und sein Zwillingsbruder Rustico sollen sich um die Expedition kümmern. Aber dienen sie ihrem Herrn wirklich treu ergeben?

Das heute so einzigartige Welterbe, Venedig, war in der frühen Neuzeit eine bedeutende Handels- und Seemacht. Im frühen Mittelalter dagegen war die Ansammlung von Lagunensiedlungen an der Adria wenig mehr als ein byzantinischer Außenposten im Sumpf. Nachdem das Oströmische Reich im heutigen Italien an Macht verlor, stand Venedig (dieser später verwendete Name kommt übrigens vom Volk der Veneter) zwischen Byzanz und dem unter Karl dem Großen aufstrebendem Frankrenreich. Geographisch gesehen war es nämlich das Tor nach Osten, und so war es auch dem Wunsch nach besserer Verteidigung geschuldet, dass unter dem Dogen Giustiniano Participazio dessen Amtssitz von der Insel Malamocco nach Rivus Altus oder Rivo Alto, was so viel wie „hohes Ufer“ (oder „tiefer Kanal“) bedeutet, verlegt wurde. Aus diesem Siedlungskern entwickelte sich das Venedig, das wir heute kennen, und der Name des Stadtteils Rialto (mit der berühmten Rialtobrücke) geht darauf zurück.11

Portrait des venezianischen Dogen Leonardo Loredan, gemalt von Bellini.
Leonardo Loredan, von 1501 bis 1521 der 75. Doge von Venedig. Der charakteristische Hut namens Corno Ducale ist seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesen, Giustiniano Participazio trug ihn also noch nicht. (Bildquelle12)

In etwas späterer Zeit waren die Dogen von Venedig (erkennbar an ihrem lustigen Hut) nur repräsentative Staatsoberhäupter, während die eigentliche Macht bei den Räten und oligarchischen Familien lag. Im 9. Jahrhundert aber hatten die Dogen noch wirkliche Regierungsgewalt, und es gab vermehrt Versuche, das Wahlamt in eine erbliche Rolle umzuwandeln. So war vor Giustiniano Participazio bereits dessen Vater Agnello Doge. Während Giustinianos Tochter Matelda für den Roman erfunden wurde, gab es auch den Tribunen Bonus von Malamocco wirklich (ebenso wie einen Rusticus aus Torcello, der aber offensichtlich nicht dessen Bruder war).13 Ob Giustiniano wirklich so eine schwache und Bonus so eine machtgierige Figur war, ist freilich nicht belegt. In ihre Zeit aber fällt die abenteuerliche Legende, wie die Gebeine des Heiligen Markus nach Venedig gelangten – auch, wenn diese Idee in Wirklichkeit wohl nicht dem Kopf einer aufmüpfigen Dogentochter entstammt.

3. Die Odyssee des Heiligen Markus

Über den historischen Markus, der das wahrscheinlich älteste Evangelium über das Leben Jesu Christi verfasst haben soll, ist wenig bekannt. Er war wohl ein einfacherer Priester und Gelehrter, der eher im Schatten der Apostel Petrus und Paulus wirkte. Im Mittelalter waren es jedoch die Heiligenviten, die als verbindliche Quellen angesehen wurden. Der Legende nach soll Markus auf Missionsreisen zwischen Rom und Alexandria auch in Venetien vorbeigekommen sein und das Bistum Aquileia gegründet haben. Es handelte sich bei den dortigen Bischöfen um Patriarchen, die einen hohen kirchlichen Rang einnahmen. Während der Völkerwanderung waren diese nach Grado (was zu Venedig gehörte) abgewandert und es hatte sich ein Konkurrenzverhältnis etabliert. Aquileia war im 9. Jahrhundert Teil des fränkischen Herrschaftsgebiets, und die Frage, ob nun Grado oder Aquileia der Sitz des souveränen Patriarchats sein sollte, war politisch brisant: Behielt Venedig in dieser Angelegenheit seine Eigenständigkeit (pro Grado) oder unterstanden ihre Kirchen künftig den Franken (pro Aquileia)?14

Für die Menschen des frühen Mittelalters war es also völlig unerheblich, ob der Markus aus Jesu Zeiten tatsächlich in Aquileia vorbeigekommen ist (Belege gibt es dafür nämlich nicht). Umso bedeutender war aber der Besitz seiner Gebeine, die in Alexandria aufbewahrt wurden, wo er angeblich ebenfalls eine Gemeinde gegründet hat. Der Reliquienkult der Vergangenheit erscheint uns heute meistens absurd und morbide, in der Glaubenswelt der damaligen Zeitgenossen spielte er aber eine zentrale Rolle. Heilige galten den Menschen als Patrone und als Fürsprecher bei Gott, ihnen wurde die Macht zugesprochen, Wunder zu wirken sowie Schutz und Heil zu bringen. Kurz gesagt: Reliquien bedeuteten Ansehen, und das hatten auch die Venezianer verstanden. Reinhard Lebe zufolge hatten sie einen klaren Plan: „[W]er Markus, den Gründer des Patriarchats, den apostolischen Evangelisten, höchstselbst in Reliquienform vorweisen konnte, dessen Anspruch auf legitime kirchliche Nachfolgeschaft konnte nicht mehr so leicht bestritten werden“15.

Der Markusdom in Venedig, Gemälde von Canaletto.
Der Markusdom in Venedig, gemalt von Canaletto. Der byzantinische Einfluss ist in der Architektur gut zu sehen. Rechts daneben der Dogenpalast. Beides gab es zur Zeit unserer „Eispiraten“ noch nicht. (Bildquelle16)

Woher den Heiligen nehmen?

Was hat diese abenteuerliche Unternehmung nun mit den Wikingern aus dem Roman zu tun? Die Venezianer sind sich wohl bewusst, dass sie sich ein schwieriges Unterfangen vorgenommen haben. Was sie dafür mit Sicherheit brauchen, ist ein schnelles Schiff. Und das hat nun einmal der Nordmann Alrik. Der Ruf der Eispiraten ist ihnen vorausgeeilt, und auf ein paar Umwegen nimmt der Doge die Besatzung der Visundur in seine Dienste (man könnte auch sagen, er erpresst sie). Alrik bleibt nichts anderes übrig, als den Auftrag auszuführen, und zu allem Übel muss er auch noch den ätzenden Intriganten Bonus von Malamocco mitnehmen.

In der Realität war die Überführung nicht nur ein logistisches Problem. Es stand nicht zu erwarten, dass die Gemeinde in Alexandria die Gebeine bereitwillig abgeben würde. Wie haben die Venezianer das also gemacht? Der Bericht, der dem Jahr 828 zeitlich am nächsten liegt, vermerkt lediglich, dass diese vom Dogen Giustiniano (Participazio) feierlich in der Lagunenstadt in Empfang genommen worden waren.17 Erst in den folgenden Jahrhunderten, einhergehend mit Venedigs weiterem Aufstieg, wurde die Legende weiter ausgeschmückt. Andrea Dandolo, der ab 1343 Doge war, verfasste eine offizielle Chronik Venedigs, die auch die Beschaffung des Heiligen beschreibt. Dort heißt es, die ägyptischen Christen hätten ohnehin um ihre Sicherheit und die der Reliquie gefürchtet, da al-Ma’mun, der Kalif von Bagdad (der auch über Alexandria herrschte) die Demolierung der christlichen Kirchen befohlen habe. Die uns bereits bekannten Kaufleute Bonus von Malamocco und Rusticus von Torcello sollen den besorgten Geistlichen den Leichnam quasi mit der Begründung abgeschwatzt haben, dass sie diesen in Venedig viel gebührlicher und ehrenhafter würden hüten können, worauf sich die Vorsteher der alexandrischen Gemeinde einließen.18 Ob das tatsächlich so ritterlich ablief oder die Venezianer die Gebeine nicht viel eher entwendet oder Bestechung eingesetzt haben, liegt freilich im Dunkeln.

Mit List und Tücke

Es blieb das Problem, wie man den Leichnam an den Zöllnern des Kalifen vorbeischmuggeln sollte, die die Reliquie zwar nicht aus Glaubens-, wohl aber aus machtpolitischen Gründen sicherlich gerne behalten hätten. Dazu sollen Bonus und Rusticus (letzterer blieb im Roman daheim) eine List ersonnen haben: Der obere Teil der Kiste, die als Sarg fungierte, wurde angeblich mit Schinken und Schweinefleisch aufgefüllt. Dies erweckte den Abscheu der Muslime, deren Religion Schweinefleisch verbietet, sodass die Ladung nicht näher untersucht wurde. „Glücklich“, schließt Dandolo seinen Bericht, „brachten Bonus und Rusticus ihren Schatz nach Venedig“19.

Mosaik am Markusdom in Venedig, welches den Diebstahl der Reliquie zeigt.
Ein Moasik an der Fassade von San Marco, das die List der Venezianer beim Transport des Heiligen Markus zeigt. (Bildquelle20)

Im Zuge des Aufstiegs zur Großmacht baute Venedig die Markuslegende immer weiter aus, und über den Gebeinen wurde der bis heute weltbekannte Markusdom errichtet. Wessen Leichnam dort liegt, ist natürlich reine Spekulation. Sicher ist lediglich, dass zwei Venezianer im Jahr 828 irgendwelche sterblichen Überreste nach Venedig mitbrachten und die Zeitgenossen ihnen den Besitz der Markusreliquie relativ unstrittig zuerkannten – seither nennt sich Venedig auch Republicca di San Marco, Markusrepublik. Dass sich die Echtheit eines so alten Leichnams natürlich nicht wirklich bestätigen lässt, öffnet wiederum Tür und Tor für einige schräge Theorien.

4. Wo ist das Alexandergrab?

Wie Alexander der Große (oder das, was von ihm übrig ist) in Dirk Husemanns Roman ins Spiel kommt, verschweige ich an dieser Stelle. Gesagt sei nur so viel: Es bleibt abenteuerlich. So abenteuerlich wie die Idee, dass anstelle des Heiligen Markus der Leichnam von Alexander dem Großen unter der Markusbasilika in Venedig gelandet ist! Tatsächlich handelt es sich dabei aber um eine zumindest denkbare Theorie, über die Dirk Husemann selbst praktischerweise ein Sachbuch verfasst hat.

Zur Erinnerung: Alexander der Große lebte von 356 bis 323 v. Chr. und eroberte sich als König von Makedonien die halbe damalige Welt (inklusive Ägypten und Indien) zusammen, sodass er seither für alle nachfolgenden Feldherren (oder solche, die es sein wollten) als Vorbild diente. Allerdings starb er mit nur 32 Jahren unter rätselhaften Umständen. Als mögliche Todesursache kommen etwa Gift, Alkoholmissbrauch, Malaria oder Typhus in Frage.21

Mosaik Alexanders des Großen in der Schlacht, Pompeji.
Alexander der Große in der Schlacht, Ausschnitt aus dem Mosaik im Haus des Fauns in Pompeji. Mit im Bild sein legendäres Pferd Bukephalos. (Bildquelle22)

Letzte Ruhe für den Feldherrn

Sein Reich zerfiel direkt danach im Zuge blutiger Kämpfe, denn er hatte keinen Nachfolger eingesetzt. Und ähnlich, wie die Venezianer später mit ihrem Markus argumentierten, waren auch die antiken Feldherren der Ansicht, dass der Besitz von Alexanders Leichnam eine Art Herrschaftslegitimation darstellte. Ganze zwei Jahre vergingen, bevor der Leichenzug überhaupt aufbrechen konnte! Alexander selbst hatte sich eigentlich im Heiligtum des ägyptischen Reichsgottes Amun in der Oase von Siwa beerdigen lassen wollen, da er in seiner Rolle als Pharao wie ein Gott verehrt worden wäre. Gestorben ist er jedoch in Babylon, von wo die beträchtlich große (und detailliert überlieferte) Leichenprozession um 321. v. Chr. aufbrach. Offenbar wollte ihn sein General Perdikkas, offizieller Regent des Reiches, nach Makedonien zurückbringen, allerdings kam er nicht weiter als bis nach Syrien. General Ptolemaios, der die hellenistische Pharaonendynastie der Ptolemäer in Ägypten begründete (diese endete erst 30 v. Chr. mit dem Tod Kleopatras), entführte kurzerhand Alexanders Mumie und ließ sie vermutlich nach Memphis bringen. Erst sein Nachfolger, Ptolemaios II., errichtete dann ein Mausoleum in Alexandria und bestattete Alexander dort.23

Hier wird es nun interessant, denn noch bis ins 4. Jahrhundert nach Christus war wohlbekannt, wo Alexander der Große ruhte. Viele Quellen berichten von der Lage des Mausoleums. Es war sogar eine regelrechte Touristenattraktion, und nicht zuletzt die Mächtigen besuchten es pflichtbewusst. Wer den monumentalen Historienfilm „Cleopatra“ mit Liz Taylor gesehen hat, erinnert sich vielleicht an die Szene, in der die Pharaonin das Grab zusammen mit Julius Cäsar besichtigt. Einer (später verfassten) Anekdote zufolge soll Kaiser Augustus sogar den Sargdeckel entfernt haben, um die Mumie zu küssen, wobei er dem toten Alexander versehentlich die Nase abgebrochen habe.24 Wer sich jetzt an Asterix und die Episode mit der Sphinx erinnert fühlt…

Leichenzug von Alexander dem Großen
Rekonstruktion von Alexanders Leichenzug aus dem 19. Jahrhundert gemäß der Beschreibungen von Diodor (Bildquelle25)

Theorie einer Verwechslung

Ungefähr um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. verliert sich die Spur des Alexandergrabes in den Quellen, was zeitlich genau mit einem Erdbeben nebst Flutwelle zusammenfällt, welches 356 n. Chr. das antike Zentrum Alexandrias zerstörte. Weil die Stadt bis in die Gegenwart konstant besiedelt und bebaut wurde, gibt es heute kaum mehr Spuren aus der alten Zeit. Vielleicht ist Alexander also buchstäblich im Schlamm der Geschichte versunken.26

Der Historiker Andrew Chugg hat allerdings eine erstaunliche Parallele entdeckt, die man zumindest mit Beachtung würdigen kann. Die Erwähnungen des bekannten Alexandergrabes enden in den Quellen genau im gleichen Zeitraum, in dem die Berichte über ein anderes Grab beginnen: das des Heiligen Markus. Der soll zwar eigentlich nach seinem Martyrium verbrannt worden sein, im 4. Jahrhundert entstand jedoch eine neue Legende, wonach ein wundersamer Regen die Flammen löschte, sodass die frühen Christen den Leichnam retten und begraben konnten. Die Quellen beschreiben auch, wo die Kirche des Heiligen Markus errichtet wurde, nämlich nahe des damaligen östlichen Stadttores. Bei einem Vergleich von Stadtplänen aus antiker und mittelalterlicher Zeit fiel Chugg auf, dass die Markuskirche damit relativ genau über der Stelle lag, an der sich im Altertum das Stadtzentrum befunden hatte – und Alexanders Mausoleum.27

Chugg hält folgendes Szenario für möglich: Bis ins 4. Jahrhundert hinein wurde Alexander quasi als heidnischer Gott verehrt, der letzte Augenzeugenbericht über seine Mumie fällt wohl ins Jahr 391 n. Chr. Ab 390 war das Christentum offizielle Staatsreligion (muslimisch wurde Alexandria im 7. Jahrhundert), was in der Unterdrückung des heidnischen Glaubens und der Zerstörung vieler alter Heiligtümer mündete. Vielleicht also hat die christliche Kirche den Leichnam einfach zu dem des Heiligen Markus umdeklariert, um mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Der heidnische Feldherr wurde nicht mehr angebetet, der berühmte Evangelist dagegen war praktischerweise als Reliquie vorhanden und konnte als Schutzheiliger (und lukratives Pilgerziel) fungieren. In diesem Kontext würde es auch Sinn ergeben, eine Legende zu streuen, wonach der Heilige eben doch nicht zu Asche verbrannt wurde. Die Kirche ging damals durchaus flexibel mit menschlichen Überresten um, wenn es galt, sie zu authentischen Reliquien zu erklären – wer hätte die Echtheit auch nachprüfen können? Es liegt also durchaus im Rahmen des Möglichen, dass Alexanders Mumie einfach umgewidmet wurde. Tatsächlich will Andrew Chugg im Markusdom in Venedig auch einige auffällige antike Symbole entdeckt haben, die darauf hindeuten, dass die Venezianer im Jahr 828 gutgläubig den falschen Leichnam in die Lagunenstadt geschmuggelt haben.28

Es ist zwar keine unmögliche, aber doch eine wackelige Theorie (die Wissenschaft ist ebenfalls mehr als gespalten) – aber genau das macht Geschichte so faszinierend. Und ihr dürft gespannt sein, wen Dirk Husemann in seinem Roman „Die Eispiraten“ unter den Markusdom gelegt hat!

5. Rezension

Cover des Romans "Die Eispiraten" von Dirk Husemann
Dirk Husemann, Die Eispiraten, Bastei Lübbe.

Nachdem ich von Dirk Husemann bereits „Die Bücherjäger“ gelesen habe und nicht ganz so begeistert war, hatte ich an „Die Eispiraten“ richtig Spaß! Zwar sind sowohl die Bösewichte als auch die Helden ein wenig stereotyp, in diesem Fall stört es mich aber gar nicht – ebenso wenig wie die eine oder andere leicht übertriebene dramatische Wendung. Denn für eine solche Abenteuergeschichte ist das gerade passend.

Auf der turbulenten Reise quer durch den Mittelmeerraum passiert wirklich ständig etwas, man kann kaum gucken, so schnell flitzen die Protagonisten mit ihren Booten durch die Gegend. Langweilig wird es bei der Lektüre also definitiv nicht. Und mir hat besonders gut gefallen, wie Husemann all die Elemente, die entweder Teil einer Legende oder im Kern historisch überliefert sind, zu einer fiktiven Geschichte verbindet. So kurios die Erlebnisse der Eispiraten also scheinen, sie sind nicht undenkbar, und in allen Aspekten steckt wenigstens ein Körnchen Wahrheit.

Darauf weist Husemann auch in seinem Nachwort hin und erläutert zusammenfassend, welcher Mythen und Theorien er sich bedient hat – was ich (wie immer) super finde. Hier geht es eben nicht darum, eine bis ins Detail belegte historische Begebenheit literarisch aufzuarbeiten, sondern es geht um eine erfundene Geschichte, die in der Vergangenheit spielt und dabei bestimmte historische Elemente aufgreift und in die Handlung einbettet. Außerdem gibt es ein hilfreiches Glossar mit Begriffserklärungen.

Nicht nur über so manches Element der Handlung musste ich herzlich lachen, auch Dirk Husemanns Sprache hat mich bestens unterhalten. Stilistisch ist der Roman lockerflockig zu lesen, mit vielen witzigen Metaphern und einer guten Portion Humor, den auch die Protagonisten selten verlieren. Eine rasante Lektüre für heiße Tage, die zwar leicht, aber dennoch auch gehaltvoll ist. Husemann, selbst studierter Archäologe, beweist mit seinen „Eispiraten“, dass fundierte historische Recherche und die ungelösten Rätsel der Geschichte auch in einer unterhaltsamen Abenteuerstory ihren Platz finden können.

Dirk Husemann: Die Eispiraten, erschienen im Jahr 2017 bei Bastei Lübbe.

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  1. Zahlreiche Bevölkerungsgruppen des Nord- und Ostseeraums werden überbegrifflich als Wikinger bezeichnet, und nicht alle waren Raubfahrer. Vgl. Vogel, Walter: Die Normannen und das fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie (799-911) (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 14), Heidelberg 1906, S. 16-21.
  2. Vogel, Walter: Die Normannen und das fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie (799-911) (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 14), Heidelberg 1906, S. 49-335.
  3. Bildstein aus Visby, Foto von Wolfgang Sauber, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6302930, Zugriff am 18.07.2019.
  4. Davidson, H. R. Ellis: The Viking Road to Byzantium, London 1976, S. 80-106.
  5. Davidson, H. R. Ellis: The Viking Road to Byzantium, London 1976, S. 177-192.
  6. Wir kennen ihn schon aus meinem Artikel zur Pest.
  7. Reinke-Kunze, Christine: Die PackEISWaffel. Von Gletschern, Schnee und Speiseeis, Basel 1996, S. 209-210.
  8. Reinke-Kunze, Christine: Die PackEISWaffel. Von Gletschern, Schnee und Speiseeis, Basel 1996, S. 210.
  9. Stich von Secondo Bianchi, um 1820, Scan von Rainer Zenz, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2048733, Zugriff am 13.07.2019.
  10. Reinke-Kunze, Christine: Die PackEISWaffel. Von Gletschern, Schnee und Speiseeis, Basel 1996, S. 211.
  11. Karsten, Arne: Geschichte Venedigs, München 2012, S. 12-18.
  12. Doge Leonardo Loredan, Gemälde von Giovanni Bellini, National Gallery, London, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=85107, Zugriff am 18.07.2019.
  13. Karsten, Arne: Geschichte Venedigs, München 2012, S. 16-19.
  14. Lebe, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco, Frankfurt/Main 1978, S. 33-37.
  15. Lebe, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco, Frankfurt/Main 1978, S. 39-40.
  16. Canaletto: San Marco, um 1740, Bild von Warburg, 2012. Unicef3. Arp Museum, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24558050, Zugriff am 13.07.2019.
  17. Lebe, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco, Frankfurt/Main 1978, S. 41.
  18. Lebe, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco, Frankfurt/Main 1978, S. 42-44.
  19. Zitiert nach: Lebe, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco, Frankfurt/Main 1978, S. 44.
  20. Mosaik am Markusdom in Venedig, unbekannter Fotograf, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3512348, Zugriff am 18.07.2019.
  21. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 43-53.
  22. Alexandermosaik in Pompeji, Foto von Berthold Werner, Archäologisches Nationalmuseum Neapel, Mai 2013, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32224319, Zugriff am 18.07.2019.
  23. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 56-62.
  24. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 62-63.
  25. Leichenzug Alexanders des Großen, unbekannte Quelle – http://www.alexanderstomb.com/main/imageslibrary/alexander/index.htm, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=649351
  26. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 116-117.
  27. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 120-121.
  28. Husemann, Dirk: Mythos Alexandergrab. Spurensuche auf drei Kontinenten, Stuttgart 2006, S. 121-123.

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