Rockstar-Attitüde in Öl
Was haben Mick Jagger und Heinrich VIII. gemeinsam? Also, abgesehen von einem eher ungesunden Lebensstil und dem ihnen vorauseilenden Ruf als notorische Womanizer … ? Es ist die Geste des in die Hüfte gestemmten Armes mit dem vorgeschobenen Ellbogen, der die Kunsthistorikerin Joaneath Spicer dazu bewegt hat, den Rockstar und den Renaissancemenschen in einem Atemzug zu nennen. Eine Geste, die mir zuvor nie bewusst aufgefallen ist, die ich jetzt aber in allen möglichen Gemälden bemerke: Was hat es mit dem Renaissance-Ellbogen auf sich?
Macht und Männlichkeit
Die beeindruckenden Portraits, die wir aus der Renaissance und dem Barock noch heute erhalten haben, erscheinen uns wie lebendige Einblicke in eine vergangene Zeit. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass es sich um sorgfältig komponierte und durchdachte Repräsentationen handelt, die einen bestimmten Zweck verfolgen. Eine wichtige Rolle für den Eindruck, den wir von den auf Leinwand gebannten Personen bekommen, spielt die Körpersprache. Die Bewegung im Unbewegten einzufangen, ist eine große Kunst und ein wichtiges Mittel, um gesellschaftliche Codes abzubilden. Das analysiert Joaneath Spicer in ihrem Aufsatz über den Renaissance-Ellbogen1, der sich in der Malerei des 15. bis 17. Jahrhunderts gehäuft findet, in Deutschland, Italien, vor allem aber den Niederlanden. Für diese Phase verzeichnet Spicer »eine Explosion männlicher Ellbogen«2.
Was drückt die Geste, zu der wir gleich im Detail kommen werden, aus? Selbstsicherheit, Führungsanspruch, Autorität. Ein ähnliches Muster ist in unserem Jahrhundert als manspreading verpönt, am Beispiel des breitbeinig in der U-Bahn seinen Platz einfordernden, assertiven Mannes. Nichts Neues – denn der Renaissance-Ellbogen hat ebenfalls die Funktion, den (bildlichen) Raum einzunehmen und daraus einen Geltungsanspruch des Dargestellten abzuleiten. Ein sehr frühes Beispiel ist Spicer zufolge Albrecht Dürer, der Meister der selbstbewussten Selbstportraits: Der Maler zeigt sich mit dem Unterarm auf dem Tisch ruhend. In einem Buch über die Etikette des 14. Jahrhunderts, also einer Art Renaissance-Knigge, wird geraten, bei gemeinsamen Mahlzeiten den Ellbogen nicht auf dem Tisch abzulegen, da es sich um eine vereinnahmende, ungebührlich besitzergreifende Geste handele.3 Dürer, ganz Renaissance-Mensch, pfeift auf diese Konvention.
Eine zweite Form des Renaissance-Ellbogens ist die militärische Pose des in die Hüfte gestemmten Armes mit herausgestrecktem Ellbogen, die nicht auf die Darstellung von Soldaten und Standartenträgern beschränkt blieb. Auch hier gilt: Raum einnehmen, Stolz zeigen, Männlichkeit unterstreichen. Das Motiv war so populär, dass sich gar Cosimo I., Groß(?)herzog der Toskana, als Söldner und damit unter seinem Stand malen ließ. Und wie wir bereits gesehen haben, scheint auch Heinrich VIII. Gefallen an der Pose gefunden zu haben.
Die »Benimmliteratur« freilich blieb kritisch: Der Gelehrte Erasmus von Rotterdam etwa verurteilte den in die Hüfte gestemmten Arm 1532 in seinem Traktat De civilitate morum puerilium als unaufrichtig und anmaßend.5
Die Assoziation mit dem Militär erklärt laut Spicer auch, weshalb der Renaissance-Ellbogen um 1600 gerade in den Niederlanden einen Boom erlebte, der größer war als in Deutschland oder Italien, denn dort stand mit dem Unabhängigkeitskampf gegen Spanien beständig der Krieg vor der Tür.7 Meistens handelte es sich bei den so abgebildeten Personen, zumal auf Einzelportraits, um hochrangige oder regierende Mitglieder der Gesellschaft. Spicer stellt sogar fest, dass Männer, die mit dem Renaissance-Ellbogen abgebildet wurden, noch heute viel öfter namentlich zu identifizieren sind, als solche, die die Geste nicht zeigen!8 Spicer vermutet, dass die republikanische Struktur der Niederlande mit ihrer vergleichsweise größeren sozialen Gleichheit die Machthabenden in besonderem Maße dazu angeregt hat, sich mittels dieser Gestik noch einmal hervorzuheben.9
Was ist mit den Frauen?
Militärisch angehauchte Posen waren natürlich nichts für das »schwache Geschlecht«, von dem Unterwürfigkeit und auf gar keinen Fall die selbstbewusste Vereinnahmung von Raum erwartet wurde. Sich so in den Vordergrund zu stellen, wäre als unanständig aufgefasst worden. Meistens werden mit dem provokativen Renaissance-Ellbogen also nur moralisch zweifelhafte Frauen abgebildet, etwa Prostituierte oder Allegorien für Stolz und Eitelkeit. Aber wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel: Wer einer hochgestellten Familie angehörte, konnte sich eine solche Darstellung mitunter doch erlauben; wer wie Elisabeth I. von England als Königin herrschte, hatte offenbar keinen solchen Konflikt mit dem eigenen Selbstbewusstsein.10
In den meisten Fällen allerdings waren, gerade bei Doppelportraits, die Rollen ebenso klar verteilt wie die Körpersprache: Die Frau sieht den Betrachter meistens nicht direkt an und hält ihre Arme entweder sittsam am Körper oder hat die Hände gefaltet, während der Mann direkt aus dem Bild hinausschaut und mit seinem Ellbogen das Bild ausfüllt. Oder aber er stemmt den einen Arm in die Hüften und berührt mit der anderen Hand die Schulter der Frau. Eine so beschützende wie besitzergreifende Geste, die, so Spicer, auch in der heutigen Zeit häufig zu finden ist und einen eindeutigen Code an andere Männer sendet.12
Bis heute ist der ausgefahrene Ellbogen, der auf der Hüfte ruhende Arm, eine Geste, die wir unwillkürlich verwenden, aber auch ohne nachzudenken verstehen. Wer sie anwenden will und darf, hat sich dabei ein wenig gewandelt. Ich kann nun jedenfalls keine Portraits aus der Renaissance (die Spicer in ihrer Betrachtung übrigens relativ weit fasst, aber »Renaissance-Barock-Ellbogen« klingt auch einfach nicht so eingängig) sehen, ohne männliche Ellbogen zu suchen und zu finden!
Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle an die liebe Sabine Weiß, die mich auf das Thema »Renaissance-Ellbogen« aufmerksam gemacht und mir auch den Aufsatz von Joaneth Spicer geschickt hat. Sie ist bei ihren Recherchen für den Amsterdam-Roman »Krone der Welt«, den ich mit Nachdruck empfehle, darauf gestoßen.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 86, eigene Übersetzung.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 88-89.
- Selbstbildnis von Albrecht Dürer, The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150502, Zugriff am 08.03.2021.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 95.
- (1) Heinrich VIII. von Hans Holbein dem Jüngeren, The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=152992, (2) Nicholas Carew von Hans Holbein dem Jüngeren,vThe Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=152976, Zugriffe am 08.03.2021.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 95.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 97.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 118.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 100.
- Elizabeth I., English school – ArtDaily.com, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=49103357, Zugriff am 08.03.2021.
- Joneath Spicer: The Renaissance elbow, in Bremmer, J.N/Roodenburg, H.: A Cultural History of Gesture, 1991, S. 108.
- Meister des Antwerpener Familienportraits, The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=155219, Zugriff am 08.03.2021.