Das mysteriöse Schicksal von Louis XVII. von Frankreich
Wer sich schon einmal mit der Französischen Revolution befasst hat, kennt das tragische Ende des letzten Königspaares, Louis XVI. und Marie Antoinette. Sie verloren ihre Köpfe unter der Guillotine. Was aber wurde aus ihren Kindern? Besonders das umstrittene Schicksal ihres Sohnes Louis Charles bewegt noch heute die Gemüter. Kein Wunder, denn aus Stoffen wie diesem werden Verschwörungstheorien gewoben. Was kann man glauben, und was will man glauben? Louis Bayard beschäftigt sich genau damit in seinem Roman „Die Geheimnisse des schwarzen Turms“.
Die Romanhandlung beginnt im Jahr 1818, in dem wir den Mediziner Hector Carpentier kennenlernen, der mit seiner verwitweten Mutter in ärmlichen Verhältnissen in Paris lebt. Um über die Runden zu kommen, müssen sie sogar Studenten als Logiergäste aufnehmen. Es ist kein besonders liebevolles Zuhause, sondern eines, das von Gewohnheit geprägt ist. Wenigstens auf den Alltag kann man sich in unruhigen Zeiten verlassen.
1. Freiheit, Gleichheit, Monarchie
1789 war es zur Französischen Revolution gekommen. Die Franzosen hatten sich entschlossen, Hunger und Ausbeutung nicht weiter zu ertragen, und ihren König mit seinem dekadenten Lebenswandel kurzerhand abgesetzt. Die Einführung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mündete allerdings schnell in einem Terror-Regime, in dem alsbald mehr als nur adlige Köpfe rollten. Schließlich fielen die Anführer ihrer eigenen Brutalität zum Opfer, und ein kleiner korsischer General namens Napoleon Bonaparte ergriff nicht nur die Herrschaft, sondern 1806 gleich die Kaiserkrone. Nachdem er halb Europa erobert hatte, unterlag er jedoch 1815 endgültig den Truppen seiner Gegner und wurde auf eine einsame Insel im Atlantik verbannt (wo er sich buchstäblich zu Tode langweilte). Im Zuge der sogenannten Restauration saß unversehens Louis XVIII. auf dem Thron, der jüngere Bruder des guillotinierten Königs.
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Im Hause Carpentier fügt man sich den wechselhaften Zeiten gleichmütig. Man hatte alle Hinweise auf die alte Monarchie getilgt, man hatte seinen Patriotismus zur Schau gestellt und schließlich auch die Vasen mit Napoleons kaiserlichem Wappen diskret in die Schränke befördert, ohne sich zu viele Gedanken darüber zu machen. Das geruhsame, aber ziemlich langweilige Leben von Hector wird auf den Kopf gestellt, als er unversehens Besuch von Vidocq erhält, dem gefürchteten und berüchtigten Chef der Pariser Geheimpolizei.
– Vidocq.
– Sie meinen … ach, ist das nicht irgend so ein Gendarm?
– Irgend so ein Gendarm. Und Napoleon ist bloß irgend so ein Soldat.2
Ein Toter wurde gefunden, Chrétien Leblanc, und unglücklicherweise hatte er einen Zettel mit der Anschrift der Carpentiers in der Tasche. Da er sich keiner Schuld bewusst ist und den Ermordeten nicht einmal kannte, bleibt Hector nichts anderes übrig, als Vidocq bei seinen Ermittlungen zu helfen. Zumal der keiner ist, dem man einen Wunsch abschlägt …
2. Die Anfänge der modernen Kriminalistik
In der Tat war der 1775 geborene Eugène-François Vidocq eine schillernde Figur. Er hatte selbst wegen verschiedener krimineller Aktivitäten mehrfach im Gefängnis gesessen, bevor er 1809 bei der Polizei anheuerte und als Agent bei der Sûreté, der neuen Sicherheitsbehörde, arbeitete. Vidocq war höchst erfolgreich, schließlich kannte er das kriminelle Milieu nur zu gut. Seine eigenen zwielichtigen Erfahrungen zur Verbrechensbekämpfung einzusetzen, war definitiv eine gute Idee gewesen. 1811 wurde er Chefdetektiv der Sûreté und konnte einen Rekord von 772 Festnahmen bis 1817 für sich verbuchen. Mit seiner gerissenen Arbeitsweise machte er sich jedoch viele Feinde, sodass er den Dienst wenig später quittierte und 1828 seine Memoiren publizierte, denen großer Erfolg beschieden war. Vidocq war mit großen Schriftstellern der damaligen Zeit, etwa Honoré de Balzac und Victor Hugo, befreundet und soll als erster moderner Detektiv beispielsweise Charles Dickens und Arthur Conan Doyle zu ihren Figuren inspiriert haben.3 Vidocq war also eine lebende Legende, in der Realität wie auch im Roman.
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Der Detektiv nimmt Hector mit auf eine nervenaufreibende Reise durch die Abgründe von Paris. Die letzten Worte des toten Leblanc waren „Er ist hier“, und nun stellt sich die Frage, wer denn hier ist. Schon bald dämmert Hector, dass es um eine illustre Persönlichkeit geht. Möglicherweise nämlich ist Vidocq drauf und dran, eine Verwechslungsgeschichte um den nach offizieller Lesart verstorbenen Sohn von Marie Antoinette und Louis XVI. aufzudecken. Er soll ausgetauscht worden und noch am Leben sein, und Hectors Vater soll seine Hände im Spiel gehabt haben!
3. Vom Thronfolger zum Gefangenen der Revolution
Dieses berühmte Königskind wurde am 27.03.1785 in Versailles geboren und auf den Namen Louis Charles getauft. Er war der zweite Sohn des Königspaares, in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte er erst 1789. Kurz vor dem Ausbruch der Revolution verstarb nämlich sein älterer Bruder, womit Louis Charles zum Thronfolger, zum Dauphin, wurde. Seine behütete Kindheit fand ein jähes Ende, als die königliche Familie unter dem Druck der Bevölkerung nach Paris ziehen musste, wo sie zunächst einigermaßen komfortabel im Tuilerienpalast lebte. Noch hatte der kleine Prinz viele Freiheiten und unterhielt sich beispielsweise mit Gärtnern. Es soll sich um ein aufgewecktes Kind gehandelt haben, jedoch war der Dauphin sensibel und hatte beispielsweise Angst vor bellenden Hunden.5
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Mit der Radikalisierung der Revolution (und nach einer missglückten Flucht, die die Bevölkerung ihr sehr übel nahm) geriet die königliche Familie jedoch in immer strengere Gefangenschaft, bis sie 1792 in den Temple gebracht wurde. In dieser mittelalterlichen Festung versuchten Marie Antoinette und Louis XVI., ein halbwegs normales Leben aufrechtzuerhalten. Am 21. Januar 1493 aber wurde der Vater des Prinzen, nach der Abschaffung des Königtums bekannt als „Bürger Louis Capet“, hingerichtet.7
Zusätzlich zu diesem vermutlich traumatisierenden Erlebnis ging es mit der Gesundheit des kleinen Louis Charles bergab, im Frühjahr 1793 wurde eine beginnende Tuberkulose diagnostiziert. Noch dazu trennten ihn die Revolutionäre von seiner Mutter und zwangen ihn, eine äußerst belastende Aussage gegen sie zu unterschreiben, die er wahrscheinlich nicht einmal verstand.8 Laut den Aufzeichnungen seiner älteren Schwester Marie Thérèse Charlotte erfuhr der Prinz nie von der Hinrichtung Marie Antoinettes im Oktober 1793. Er selbst hatte nur noch weniger als zwei Jahre zu leben.9
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Im Zuge ihrer Nachforschungen finden Vidocq und Hector einen Mann namens Charles Rapskeller, der gerne gärtnert und von dem sie denken, dass es sich wirklich um den Königssohn handeln könnte. Er hat körperliche Gebrechen, die sie auf die Gefangenschaft in seiner Kindheit zurückführen. Zudem wirkt er reichlich naiv und unbedarft. Vidocq quartiert ihn kurzerhand im Hause Carpentier ein, wo Hector sein Vertrauen gewinnt. Außerdem findet er Protokolle, die sein Vater verfasst hatte, als er den Prinzen im Temple als Arzt betreute. Die Aufzeichnungen enden jedoch eine Woche vor dem angeblichen Tod des Jungen. Hector und Vidocq werden nicht recht schlau aus der Angelegenheit, und sie fragen sich, ob es sich bei Charles nun wirklich um den Sohn des getöteten Königs handelt oder nicht. Das wäre nicht zuletzt ein ziemliches Sicherheitsproblem.
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4. Wem gehört Frankreichs Krone?
Für die königstreuen Royalisten wurde Louis Charles in dem Augenblick, in dem der Kopf seines Vaters unter der Guillotine fiel, automatisch zu dessen Nachfolger. Sein Onkel, der ins Exil geflüchtet war, rief ihn unmittelbar zum König aus. Obwohl er ein Kind war und niemals in irgendeiner Form regierte, ist er offiziell als Louis XVII. bekannt. Jener Onkel saß zur Zeit der Romanhandlung auf dem französischen Thron und nannte sich dieser Reihenfolge entsprechend Louis XVIII. Wäre sein totgeglaubter Neffe nun überraschenderweise lebendig um die Ecke spaziert, hätte er einen rechtmäßigen Thronanspruch gehabt – und Vorrang vor seinem Onkel. Man kann also mutmaßen, dass der regierende Louis XVIII. nicht gerade begeistert gewesen wäre.
Vidocq formuliert es im Roman treffend:
Und Sie glauben, nur weil ein blöder Hund irgendwelches Papier aus dem Bois de Boulogne ausgräbt [das angeblich die Identität von Charles Rapskeller beweist], übergibt unser König seine Krone an einen Schweizer Gärtner?12
Das Ganze ist also eine ziemlich verworrene Angelegenheit, und bei Hector Carpentier wechseln sich Sicherheit und Zweifel bezüglich der wahren Identität seines Schützlings ab. Er und Vidocq hoffen auf die Schwester des Prinzen. Marie Thérèse Charlotte hat die Gefangenschaft überstanden und lebt als Herzogin von Angoulême am königlichen Hof. Wie aber soll sie einen erwachsenen Mann wiedererkennen, den sie zuletzt als Zehnjährigen gesehen hat?
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Im Roman geht es nun hauptsächlich darum, Charles Rapskeller sicher zu identifizieren und ihn gleichzeitig zu schützen – denn kaum erfahren einflussreiche Leute von seiner Existenz, geht es für alle Beteiligten ziemlich rund. Dass der echte Prinz wirklich im Temple gestorben ist, ist nämlich keineswegs so sicher, wie offizielle Stellen behaupten wollen.
Nachdem man den Jungen von Königin Marie-Antoinette getrennt hatte, kam er in die Obhut von Antoine Simon, einem Schuster und glühendem Revolutionär. Oftmals wird behauptet, er hätte das Kind misshandelt oder gar missbraucht, was man heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen kann.14 Klar scheint aber, dass Louis Charles republikanisch und bürgerlich erzogen werden sollte. Zu Lebzeiten des Königs hatte die Nationalversammlung vorgehabt, den Thronprinzen im Sinne der konstitutionellen Monarchie15 „standesgemäß“ zu unterrichten.16 Nach der Abschaffung des Königtums aber sollte der Dauphin seine royale Abschaffung möglichst vergessen.17
5. Verwahrlost und vergessen
Im Januar 1794 nahm Simon eine neue Anstellung an. Für etwa ein halbes Jahr wurde Louis Charles fast ohne Kontakt nach außen allein gelassen. Gerade mal neun Jahre alt, war er nicht in der Lage, gegen seine Verwahrlosung anzukämpfen.18 Man muss dabei bedenken, dass er die ersten Jahre seines Lebens im Wissen verbracht hat, das wertvollste Kind des Landes zu sein. Er war nie wirklich allein gewesen. Manche der Berichte, die von Brutalitäten in der Gefangenschaft nur so strotzen, sind möglicherweise übertrieben – ohne Zweifel aber muss es für ein Kind ungeheuer leidvoll und traumatisierend gewesen sein, ohne ein vertrautes Gesicht in einer Zelle weggesperrt zu leben.
5.1. Ein Tod ohne Leiche?
Nach dem Ende der Terrorherrschaft besserten sich die Bedingungen seiner Gefangenschaft ein wenig. Trotzdem war er von der Erfahrung gezeichnet, sprach kaum. Sein neuer Arzt, Philippe-Jean Pelletan, stellte fest, dass das Kind unrettbar krank sei.19 Es starb am 8. Juni 1795. Pelletan und seine Kollegen stellten im Obduktionsbericht Skrofulose (Hauttuberkulose) als Todesursache fest. Laut der Überlieferung haben viele Leute, die den kleinen Dauphin gekannt hatten, die Leiche gesehen – der neuen Regierung schien daran gelegen gewesen zu sein, jeden Zweifel an der Identität des Jungen aus dem Temple auszuräumen.20
Sein Onkel initiierte nach 1815 die Suche nach den sterblichen Überresten von Louis XVI., Marie Antoinette und Louis Charles, die alle anonym begraben worden waren. Auf dem Friedhof Sainte-Marguerite wurde ein Skelett gefunden, das man lange Zeit für das des Dauphins hielt. Inzwischen ist aber klar, dass es sich um die Knochen einer deutlich älteren Person handelt.21 Der Leichnam des kleinen Louis Charles scheint verschollen, was den Mythos um sein mögliches Überleben nur befeuerte.
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6. Der König ist tot, es lebe der König?
Die Nachricht vom Tod des kleinen Dauphins wurde unter Anhängern der Königsfamilie mit großer Bestürzung aufgenommen. Dennoch dauerte es nicht lange, bis die ersten Verschwörungstheorien aufkamen. Während die Hinrichtungen von Louis XVI. und Marie Antoinette öffentliche Spektakel gewesen waren, verstarb der kleine Prinz abgeschieden, sein Tod wurde mit bürokratischer Nüchternheit abgewickelt. Alle möglichen Szenarien wurden ersonnen – etwa, dass man den Dauphin heimlich mit einem anderen Kind ausgetauscht hatte. Es ist zwar gesichert, dass 1795 im Temple ein Kind starb, aber die Zweifel, ob dieses Kind wirklich Louis XVII. war, hielten sich hartnäckig.
Entgegen der offiziellen Version behaupteten im Verlauf der nächsten Jahrzehnte mehr als 100 Männer, „der verlorene Dauphin“ und damit der rechtmäßige König Frankreichs zu sein. Darunter finden sich einige kuriose Geschichten – etwa einen Jungen, der behauptete, in einem Wäschekorb aus dem Temple geschmuggelt worden zu sein.23 Oder Eléazar Williams, einen kanadischen Pastor irokesischer Abstammung. Dass er sich an die Zeit in Frankreich nicht erinnern konnte, erklärte er mit einem Gedächtnisverlust, angeblich sei er aber beim Anblick eines Portraits des Schusters Simon in unerklärliche Panik verfallen. Die Behauptung, er sei als Kind aus dem Temple nach Nordamerika entführt worden, lässt sich kaum halten – einmal ganz davon abgesehen, dass weder seine Haar- noch Augenfarbe mit dem Erscheinungsbild von Louis-Charles übereinstimmten.24
6.1. Ein Uhrmacher mit Ambitionen
Doch nicht jeder angebliche Thronanwärter hatte eine so offenkundig abstruse Geschichte zu bieten wie Williams. Einer der wenigen von der Forschung einigermaßen ernsthaft berücksichtigten Prätendenten war Karl Wilhelm Naundorff. Tatsächlich weiß man nichts über die Herkunft oder die Familie dieses Uhrmachers, der erst 1810 in einem Bürgerregister in Berlin auftaucht. Nachdem er sich bereits erfolglos per Brief an seine angebliche Familie gewandt hatte, ging er 1833 nach Frankreich. Er sprach nur schlechtes Französisch und hatte einen starken deutschen Akzent. Trotzdem gelang es ihm, unter anderem Agathe de Rambaud, die ehemalige Gouvernante der Königskinder, von seiner Identität zu überzeugen. Offenbar hatte er viele Details, etwa zur Einrichtung der königlichen Gemächer, richtig wiedergeben können. Trotz der Fürsprache vieler Unterstützer konnte Naundorff nicht zu seiner angeblichen Schwester vordringen. Marie Thérèse nannte ihn einen Hochstapler und wollte ihn nicht treffen, auf Bildern erkannte sie keine Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Bruder.25
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Naundorff versuchte daraufhin, per Gerichtsbeschluss die Herausgabe einiger Wertsachen und Gegenstände zu erwirken, die dem Dauphin gehört hatten. Daraufhin wurde er gefangengesetzt, bekam seinen Pass entzogen und wurde nach England ausgewiesen. Später ließ er sich in Delft nieder, wo er 1845 verstarb – manch einer vermutet, durch Vergiftung. Die niederländische Regierung hatte er indes von seiner Identität überzeugen können, auf seinem Grabstein steht „Louis XVII, König von Frankreich“. Einige seiner Nachkommen tragen bis heute den Familiennamen der französischen Könige, Bourbon.27
Naundorff konnte einstige Vertraute der Königsfamilie auf seine Seite ziehen und hatte damit von allen Anwärtern die vielleicht überzeugendste Legitimation. Dank der modernen Wissenschaft kann seine Version der Geschichte aber ins Reich der Legenden verwiesen werden.
7. Odyssee eines Herzens
Zwar wurden das Grab und die sterblichen Überreste des Kindes aus dem Temple nie wiedergefunden, dennoch hat ein Relikt die Zeit überdauert. Pelletan, der zuständige Arzt, stahl nämlich während der Obduktion das Herz des Dauphins. Das klingt zunächst ziemlich makaber, tatsächlich war es aber keine unübliche Praxis, royale Herzen zu konservieren (andere Zeiten, andere Sitten). 1817 gibt der Doktor also zu, das Organ in ein Tuch eingewickelt und in seiner Tasche aus dem Temple befördert haben, um es in Alkohol zu konservieren. Er versuchte in den folgenden Jahren vergeblich, die Reliquie der königlichen Familie zurückzugeben. Diese hatte offenbar kein Vertrauen in die Echtheit des Herzens. Schließlich landete es bei dem Erzbischof von Paris, Hyacinthe-Louis de Quélen.28
Der erzbischöfliche Palast wurde im Zuge der Revolution von 1830 gestürmt und geplündert. Der Sohn des inzwischen verstorbenen Pelletan fand aber einige Tage später die Herzreliquie in ihrem intakten Gefäß und bewahrte sie auf. 1895, ein Jahrhundert nach dem Tod des Dauphins, wurde das Herz dem spanischen Zweig der Familie der Bourbonen übergeben.29
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1975 hatte die Odyssee schließlich ein Ende. Das Herz des Prinzen wurde zurück nach Frankreich gebracht und in einer stillen Zeremonie in Saint-Denis aufgestellt. Somit befindet es sich jetzt an dem Ort, an dem nahezu alle Könige von Frankreich ihre letzte Ruhestätte haben (oder hatten, viele der Gräber wurden während der Revolution geplündert). Auch die (vermuteten) Überreste von Louis XVI. und Marie Antoinette wurden dorthin umgebettet.31
8. Der DNA-Beweis
Die Geschichte des Herzens von Louis Charles ist mindestens so turbulent wie die Berichte der Hochstapler, die sich für ihn ausgaben. Grund genug, die Echtheit dieser Reliquie in Zweifel zu ziehen. Dieses Problem löste schließlich die moderne Technik, denn im Jahr 2000 wurden verschiedene DNA-Analysen durchgeführt.
Zunächst wurde festgestellt, dass Karl Wilhelm Naundorff nicht mit den Nachfahren der Familie von Marie Antoinette verwandt ist und demnach nicht der Sohn der Königin gewesen sein kann.32
Stattdessen fanden die Forscher heraus, dass die mitochondriale DNA aus dem in St. Denis aufbewahrten Herzen sowohl mit der aus den Haaren Marie Antoinettes (Dank sei dem Reliquienkult der Vergangenheit…) als auch den heute lebenden Nachfahren übereinstimmt. Das tote Kind aus dem Temple war also mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit der echte Louis XVI. Gerüchteweise könnte das Herz jedoch auch seinem 1789 verstorbenen älteren Bruder gehören, das angeblich ebenfalls beim Erzbischof Quélen aufbewahrt wurde. Diesen letzten Trumpf der „Naundorffisten“ und Verschwörungstheoretiker konnte ich allerdings nicht verlässlich belegen.
Bedenkt man, was Louis Charles in seiner Kindheit an Grausamkeiten erlebt hat, und dass er nachweislich unter Tuberkulose litt, kann man doch mit großer Sicherheit behaupten, dass er die Gefangenschaft in der Tat nicht überlebt hat und im Temple gestorben ist. So lange aber ein letzter Rest an Zweifel übrig bleibt, werden sich die Mythen wohl unweigerlich weiter ranken.
9. Rezension
Louis Bayard greift mit dem Rätselraten um das Schicksal des Königskindes (bzw. Kindkönigs) ein Thema auf, zu dem ich sofort einen Zugang finden konnte. Die Französische Revolution mit dem tiefen Fall der königlichen Familie war eines der ersten geschichtlichen Themen, das mein Interesse weckte.
Etwas schwieriger war der Zugang zum Roman – ich habe eine Weile gebraucht, um in die Handlung hineinzukommen. Anfangs erscheinen die Zusammenhänge lose, und erst nach einiger Zeit wird der wahre Zweck von Vidocqs und Hectors Mission ersichtlich. Trotzdem machte das Lesen von Anfang an Spaß. „Die Geheimnisse des schwarzen Turms“ unterscheidet sich stilistisch von vielen historischen Romanen, die oft primär visuelle und emotionale Eindrücke schildern. Die Atmosphäre des abgründigen, oft undurchsichtigen Paris der Restaurationszeit wird bei Bayard eher über die psychologische Ebene erreicht. Man kann sich vorstellen, wie die politischen Wechsel die Menschen verunsichert oder aber auch gleichmütig gemacht haben, wie Jeder sich selbst der Nächste war und man nicht mehr allzu viel auf die Autorität der Obrigkeit gab. Bayards Sprache ist dabei oft rasant, die Dialoge sind spannend und machen einen großen Teil des Lesespaßes aus, weil jeder Charakter seine ganz eigene Sprechweise besitzt. Auch einige der Nebenfiguren, etwa Hectors Mutter, bekommen so eine eindrucksvolle Persönlichkeit verliehen.
Die Romanhandlung zeigt, wie brisant das Rätsel um den verlorenen Dauphin zu jener Zeit gewesen sein muss. Als Leser erleben wir hautnah mit, was für einen unkontrollierbaren Strudel an Ereignissen das Auftauchen eines vermeintlichen oder echten Thronfolgers mit sich bringen konnte. Um wen es sich bei dem (fiktiven) Charles Rapskeller nun handelt, ist die Frage, die mich während der ganzen Lektüre beschäftigt hat.
Gleichzeitig stellt man sich, gemeinsam mit dem eigentlich eher stillen und nachdenklichen Hector, auch moralische Fragen. Was dem kleinen Prinzen im Temple widerfahren ist, war in jeder Hinsicht grauenvoll. Im Umgang mit ihm erkennt man ein Dilemma: Wie kann ein Kind verantwortlich gemacht werden für etwas, das seine Eltern „verbrochen“ haben? Ein unschuldiger Junge wird für seine Identität, seine Geburt zur Rechenschaft gezogen. Hätte der echte Louis Charles den Temple überlebt – er hätte nicht das geringste Interesse am französischen Thron haben müssen, um gefährlich zu sein. Seine bloße Existenz hätte ihn für den amtierenden König (oder eine andere Regierung) zur Bedrohung gemacht, weil er eine Projektionsfläche für Royalisten gewesen wäre, und mit Sicherheit war sein Tod im Gefängnis vielen revolutionären Geistern nicht unwillkommen. Was der kleine Louis Charles gerne getan hätte und ob er nicht vielleicht mit einem gewöhnlichen Leben völlig zufrieden gewesen wäre, tat freilich nichts zur Sache.
„Die Geheimnisse des schwarzen Turms“ ist nach dem etwas zähen Anfang eine spannende und lesenswert geschriebene Geschichte. Eventuell sollte man ganz grob über das historische Setting Bescheid wissen, um alle Details zu verstehen. Trotzdem könnte der Roman von Louis Bayard auch für diejenigen eine gute Wahl sein, die mal eine Abwechslung vom „typischen Histo-Roman“ wollen oder sonst gar keine lesen.
Louis Bayard: Die Geheimnisse des schwarzen Turms, erschienen 2011 bei Insel, 414 Seiten.
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- Der Königin wurde vorgeworfen, ihren Sohn zu sexuellen Handlungen angestiftet zu haben, was sie vehement bestritt. Delorme, Philippe: Louis XVII. La vérité. Sa mort au Temple confirmée par la science, Paris 2000, S. 13.
- Einen subjektiven Überblick über die Gefangenschaft der königlichen Familie im Temple bieten die Memoiren von Marie Thérèse Charlotte. Mémoire écrit par Marie-Thérèse-Charlotte de France sur la captivité des princes et princesses ses parents depuis le 10 août 1792 jusqu’à la mort de son frère arrivée le 9 juin 1795. Publié sur le manuscrit autographe appartenant à Madame la Duchesse de Madrid, online verfügbar unter: http://penelope.uchicago.edu/angouleme/index.html, Zugriff am 12.03.2018.
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- Dabei handelt es sich um ein Königtum, dessen Macht durch eine Verfassung eingeschränkt ist – der Monarch hat also nicht mehr die alleinige Macht, sondern muss mit einem Parlament zusammenarbeiten und wird verstärkt zu einer Repräsentationsfigur. Das kennt man aus den heute noch bestehenden europäischen Königshäusern.
- O’Connor, Adrian: Between Monarch and Monarchy: The Education of the Dauphin and Revolutionary Politics, 1790-91, in: French History 27/2 (2013).
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- Hamann, Jacques/Etienne, Maurice: Louis XVII et les 101 prétendants, Paris 1999, S. 62-70.
- Marius Carpin: Félix De Backer, Louis XVII au cimetière de Ste-Marguerite – Enquêtes médicales, Paris, Paul Ollendorff, 1894, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18818886, Zugriff am 15.03.2018.
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