Marie Grosholtz und die Revolution
Wachsfiguren waren im 18. Jahrhundert der letzte Schrei – und kein Name verkörpert diese Kunst besser als der von Madame Tussaud. In einer Zeit ohne Live-TV und Instagram bildete sie das Tagesgeschehen und die ersten Prominenten ab. Als modernes Unternehmen ist Madame Tussauds heute auf der ganzen Welt vertreten, doch auch Marie Grosholtz hat klein angefangen. Und makaber. Um ihr Geschäft vor und während der Französischen Revolution geht es im Roman „Die Wachsmalerin“ von Sabine Weiss. Aber stimmt es wirklich, dass Marie die blutigen Köpfe der frisch guillotinierten Revolutionsopfer in Wachs verewigen musste? Ich gehe den Legenden heute auf den Grund – denn in Sachen Marketing machte Madame Tussaud schon damals keiner etwas vor.
1. Versteckte Wurzeln
Straßburg, 1766. Die junge Marie Grosholtz wächst ohne Vater auf, und lange versteht sie nicht, welch dunkles Geheimnis ihre Familie umgibt. Um den Erinnerungen zu entfliehen, nimmt ihre Mutter sie mit nach Paris, wo sie eine Anstellung als Haushälterin bei dem Arzt Philippe Curtius annimmt. In der Hauptstadt soll das Leben besser werden, und in der Tat ist dort so viel mehr los als im beschaulichen Elsass. Mit ihrer Freundin Laure, der Tochter einer Näherin, erlebt die junge Marie die wichtigsten Ereignisse der französischen Monarchie mit, darunter die Hochzeit des Thronfolgers mit Marie Antoinette und den Tod des alten Königs Ludwig XV.
Auch die echte Madame Tussaud, die diesen Namen erst viel später durch ihre Heirat erhalten sollte, wurde in Straßburg geboren, und zwar im Dezember 1761 als Anna Maria Grosholtz. Der Rufname Marie etablierte sich, weil ihre Mutter ebenfalls Anna hieß. Maries Vater war laut Taufurkunde bei ihrer Geburt abwesend, was sie später stets damit erklärte, dass er kurz zuvor im Siebenjährigen Krieg einen heldenhaften Tod gestorben war. Das ist zwar plausibel, es gab jedoch noch einen weiteren Grund, ihre Abkunft ein wenig zu beschönigen: Sie stammte aus einer Henkersfamilie. Der Name Grosholtz ist in Straßburg und Baden-Baden schon seit dem 15. Jahrhundert als der des Scharfrichters belegt.1 Obwohl diese ein offizielles Amt ausführten, waren sie gesellschaftlich geächtet. Der Beruf war erblich, und auch die Töchter von Henkern durften nur Henkerssöhne heiraten. Marie hatte also gute Gründe, dieses Detail Zeit ihres Lebens zu verschweigen.
Paris ist immer eine gute Idee
Maries Mutter trat auch in Wirklichkeit eine Stelle als Hauswirtschafterin bei dem Schweizer Philippe Curtius an, allerdings zogen sie dafür zuerst nach Bern. Marie nannte ihn ihren Onkel, manche vermuten, dass er ihr leiblicher Vater war. Jedenfalls sollte er für ihr weiteres Leben eine prägende Rolle spielen. Bereits in Bern fertigte Curtius anatomische Wachsmodelle an, die etwa für die medizinische Ausbildung verwendet wurden. Seine Fähigkeiten setzte er aber auch für einen einträglichen Nebenerwerb ein, denn die Leute kauften begeistert schlüpfrige bis pornographische Darstellungen aus Wachs. So wurde der Prince de Conti, ein Cousin des französischen Königs, auf ihn aufmerksam. Dieser lud Curtius in die Stadt ein, in der sich wie in keiner anderen zu jener Zeit Geld mit luxuriösen Ausschweifungen und Vergnügungen machen ließ: Paris.2
2. Eine gelehrige Schülerin
Es ist Curtius, durch den Maries Leben eine entscheidende Wendung nimmt. Abbilder der damaligen High Society ebenso wie Darstellungen der schlimmsten Verbrecher sind in seinem Kabinett neben anderen Kuriositäten beheimatet und stillen die Situationslust der Leute. Und in Marie findet der Meister eine talentierte Schülerin, deren Figuren bald neben seinen eigenen stehen.
Nachdem er sich dank seines wohlhabenden Gönners im schicksten Viertel der Hauptstadt an der Rue Saint-Honoré niederlassen konnte, holte der echte Curtius Marie und ihre Mutter zu sich. Schon als Kind kam Marie also mit dem Wachsfigurenkabinett, das er dort etablierte, in Kontakt. Mit zunehmendem Alter wurde sie so etwas wie sein Lehrling.
Making Of im Hause Tussaud
Wie genau wurden die Figuren eigentlich angefertigt? Heutzutage werden anhand von Abmessungen und Fotos zuerst Modelle aus Ton hergestellt, von denen dann eine Gussform aus Gips genommen wird. Madame Tussaud behauptete in ihren Memoiren, die Formen stets am lebenden Modell erstellt zu haben. Wie oft das tatsächlich der Fall war, ist unter ihren Biographen umstritten, wahrscheinlicher formte auch sie Tonköpfe anhand von Büsten und Statuen. Sie erzählte jedenfalls, den Gips für die Form direkt auf die eingeölten Gesichter aufgetragen zu haben. Dabei hätte sie den Leuten Strohhalme in die Nase gesteckt, damit diese weiterhin atmen konnten – eine Anekdote besagt, dass sie das einmal vergessen und ihr Modell beinahe erstickt hätte!4 Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass sich ein vielbeschäftigter General oder eine feine Hofdame zu so einer Prozedur herabgelassen hätten. Nichtsdestoweniger war es eine große Kunst, ein menschliches Gesicht naturgetreu abzubilden. Die fertige Gussform wurde mit flüssigem Wachs ausgegossen, und bis heute ist auch die Feinarbeit an den Köpfen noch fast gleich. Echtes Menschenhaar wird Haar für Haar eingestochen, unzählige Farbschichten geben ein möglichst realistisches Hautbild.5 Madame Tussaud hat übrigens oft auch menschliche Zähne verwendet. All das sollte dazu beitragen, eine täuschend echte Figur zu bekommen, was bis heute den Reiz des Wachsfigurenkabinetts ausmacht (die Zähne sind mittlerweile aber aus Acryl).
Ein Video von Madame Tussauds mit Eindrücken aus dem Herstellungsprozess findet sich hier.
Abbildungen in Wachs gibt es bereits seit der Antike. Oftmals wurden sie für religiöse Rituale genutzt oder hielten das Antlitz von Verstorbenen fest. Doch auch im Diesseits waren sie wichtig, zu medizinischen und erotischen Zwecken, aber auch, um das Aussehen berühmter Menschen einzufangen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.6 Curtius war nicht der erste Wachsbildner, der einen Salon eröffnete, vermutlich aber der effektivste und geschäftstüchtigste. Und Marie stand ihm später in nichts nach.
2.1. Das Kuriositätenkabinett des Philippe Curtius
Philippe Curtius bediente in seinem Kabinett mehrere Interessen. Einerseits waren die Menschen neugierig darauf, die Leute, die sie aus Berichten und Erzählungen kannten, bildlich vor sich zu sehen. Und je nachdem, welcher Art die dargestellte Prominenz war, war es auch in deren eigenem Interesse, von den Leuten gesehen zu werden und im Gespräch zu bleiben (Paparazzi-Fotos und Instagram-Selfies gab es schließlich noch nicht). Gezeigt wurden die Helden der neuesten Nachrichten, aber auch die Akteure der Skandalgeschichten und des königlichen Hofes. Und auch die düstersten Mitglieder der Gesellschaft. Ähnlich wie bei den Grusel- und Kuriositätensammlungen, die auf Jahrmärkten gezeigt wurden, bekam das Volk die Möglichkeit, sich an all diesen Facetten zu ergötzen. Marie Tussaud sollte später Wert darauf legen, sich davon zu unterscheiden und eher die gute Gesellschaft anzusprechen, aber eines lernte sie schon in ihrer Jugend: Die Ausstellung musste am Puls der Zeit bleiben, dann kamen auch die Leute.8
Eine gelungene Illusion
Auch die Mitglieder des Hofstaats in Versailles und die königliche Familie, die der Durchschnittsbürger in Paris kaum je zu Gesicht bekam (und schon gar nicht aus der Nähe), wurden ausgestellt. In so genannten Tableaus, szenenartigen Anordnungen, konnte man die gekrönten Häupter beispielsweise bei einem Festessen begutachten. Berühmtheiten zum Anfassen – das funktionierte schon immer gut. Curtius gab sich bei der Inszenierung der Authentizität viel Mühe: Requisiten und Möbelstücke wurden originaltreu nachgefertigt, und oftmals trieb er sogar Kleidung auf, die den Abgebildeten gehört hatte.
Einen himmelweiten Kontrast bot die Caverne des Grands Voleurs, die Räuberhöhle, die Curtius Hauptattraktion wurde (wörtlich: Höhle der großen Diebe). Hier waren Verbrecher ausgestellt, deren Hinrichtungen die Pariser oft direkt verfolgt hatten. Die Kriminellen bildeten einen Kontrapunkt zu den Angehörigen der feinen Gesellschaft, und die Besucher bekamen gewissermaßen beide Welten vorgeführt und konnten sich ihren eigenen moralischen Reim darauf machen.9
2.2. Schlafende Schönheiten und schaurige Schurken
Dass Marie das Wachsbildner-Handwerk von ihrem Onkel lernte, brachte sie schon früh in den Kontakt mit allerhand wichtigen Zeitgenossen. Die erste Wachsfigur (besser: der erste Kopf, denn anfangs waren nur Teile der Puppen aus Wachs, die dann an hölzerne Figuren montiert wurden), die sie im Alleingang schuf, war bereits die des Philosphen Voltaire. Sie startete ihre Arbeit also mit einer Berühmtheit, und dass der Mann kurz darauf starb, war sicherlich zusätzlich geschäftsfördernd. Eine weitere sehr beliebte Figur, die Curtius geschaffen hatte, war die von Madame Dubarry, der letzten Mätresse des Königs Ludwig XV. Sie ist als älteste erhaltene Figur bis heute in London ausgestellt und wird auch Sleeping Beauty genannt. Durch einen Mechanismus in ihrem Brustkorb sieht sie aus, als würde sie atmen.10 Überlegt man sich, wie die Presse und ihre Leser heutzutage nach Bildern von Berühmtheiten gieren (vor allem, wenn sie von skandalösen Geschichten umgeben sind), ist es nicht verwunderlich, dass die Pariser Curtius geradezu die Bude einrannten, um die Geliebte des Königs (die davor immerhin eine Edelprostituierte gewesen war) zu sehen.
Und was für eine Sensation, direkt benachbart die schlimmsten Verbrecher vorzufinden! Curtius und Marie sollen oftmals die Erlaubnis erhalten haben, die zu Tode verurteilten Delinquenten in ihrer Gefängniszelle zu besuchen, um eine Maske herzustellen. Auch die makabre Sensationslust wurde also von Beginn an gestillt. Zu den prominenten Schurken gehörten beispielsweise der Doppelmörder Antoine François Derues und der damals schon historische François Ravaillac, Königsmörder von Heinrich IV.
Draht nach Versailles?
Auch, wenn nicht alle im Salon gezeigten Personen aktiv Modell für ihre Figuren saßen, waren doch einige zumindest flüchtig mit Curtius und Marie bekannt, und manche sollen auch das Kabinett besucht und sich lobend über ihre Abbilder geäußert haben. Dass sich jedoch alles, was Rang und Namen hatte, regelmäßig wie in einem philosophischen Salon bei den Wachsbildnern traf und sich gar der Kaiser von Österreich (Joseph II., der Bruder der Königin) ganz ungezwungen an den Küchentisch gesetzt haben soll, um ein bisschen Sauerkraut mitzuessen, darf wohl bezweifelt werden. Die Standesgrenzen waren im Paris am Vorabend der Revolution nach wie vor eine gewaltige Barriere.12
Deshalb ist es auch mehr als unwahrscheinlich, dass Marie so etwas wie die beste Freundin von Madame Élisabeth, der jüngeren Schwester von Ludwig XVI., gewesen sein soll, wie sie später behauptete. Ihren Memoiren zufolge hätte sie als Kunstlehrerin und Gesellschafterin über mehrere Jahre mit der Prinzessin am Hof von Versailles gelebt und sich dabei auch mit der restlichen königlichen Familie angefreundet.14 Bedenkt man, wie streng der Zugang zu den innersten Kreisen in Versailles selbst für Adelige geregelt war, erscheint es mehr als unwahrscheinlich, dass Marie so ungezwungen den Alltag der Familie geteilt haben soll – zumal sie in keinen anderen Quellen als Angehörige des Hofstaates erwähnt wird und auch auf keiner Rechnung oder Kostenbilanz in Versailles auftaucht. Wahrscheinlich hat sie niemals dort gelebt. Es ist aber möglich, dass sie tatsächlich einige Male als Lehrerin von Madame Élisabeth an den Hof bestellt wurde, um ihr beizubringen, religiöse Wachsminiaturen anzufertigen, was damals als fromme Beschäftigung für Frauen galt. Alles darüber hinaus gehört mit großer Sicherheit ins Reich der Fantasie.15 Eine zu große Nähe zur herrschenden Klasse sollte sich alsbald aber ohnehin als große Gefahr erweisen.
3. Zu den Waffen
Schon jahrelang hat sich die schlechte wirtschaftliche Lage Frankreichs bemerkbar gemacht. Das Brot ist knapp, der Unmut wächst, und mit dem Sturm auf die Bastille beginnt 1789 eine neue Ära. Es ist Revolution, die Bürger fordern ihre Rechte auf blutige Weise ein und nehmen Rache an den Aristokraten. Die Karten werden neu gemischt, und Marie und Curtius müssen sich der Situation anpassen.
Bereits zwei Tage vor der Erstürmung der Bastille spielten Curtius‘ Wachsfiguren eine wichtige Rolle. Necker, der Finanzminister, in den das Volk große Hoffnungen gesetzt hatte, war entlassen worden. Die erbosten Pariser zogen in Scharen zum Wachssalon, um den Kopf ihres Helden zu fordern, in einer Art Ehrenparade durch die Stadt zu tragen und die aufrührerischen Reden, unter anderem von Camille Desmoulins, damit zu untermauern. Curtius, der bekanntermaßen sein Fähnchen nach dem Wind zu richten wusste, konnte daraufhin von sich behaupten, die Revolution vom ersten Tag an unterstützt zu haben. 16
Nur wenige Tage später waren es die ersten echten Köpfe, die nach der Eroberung der Bastille auf Piken durch die Stadt getragen wurden – und sie machten ebenfalls Station im Wachssalon, wo Curtius und Marie ihre Abbilder herstellten und im Kabinett ausstellten.18
3.1. Tussaud als Wegbegleiterin der Revolution
Die erste Phase der Revolution verlief (im Vergleich zur zweiten) noch relativ gemäßigt19, und das Wachsfigurenkabinett profitierte von den vielen Veränderungen, weil es auf das Tagesgeschehen reagieren konnte. Die Figuren und ihre Anordnung ließen sich relativ schnell umgestalten. Nicht nur konnte man die aristokratische Kleidung rasch durch die Uniformen der Revolutionsarmee ersetzen, von heute auf morgen konnten unbedeutend gewordene Figuren in den Hintergrund gerückt und die neuen Akteure als Helden präsentiert werden. Und man tat gut daran, sich an der wetterwendischen öffentlichen Meinung zu orientieren. Curtius wurde Mitglied der Nationalgarde und des politischen Jakobinerclubs, sodass Marie immer mehr Verantwortung trug und das Wachsfigurenkabinett nahezu allein managte. Nachdem sie so stolz auf ihre guten Kontakte zur feinen Gesellschaft gewesen war, musste sie nun durch die zunehmend radikale Stimmung lavieren: Die vollständige Abschaffung der Monarchie wurde gefordert, die Gleichheit ideologisiert und die Guillotine erfunden.20
3.2. Chaos und Terror
Die republikanische Phase der Revolution wird oft einfach nur Terreur, also Terror oder Terrorherrschaft, genannt. Die Guillotine, ein mechanisiertes und als human angesehenes Enthauptungsinstrument, wurde seit 1792 eingesetzt, um die Feinde der Revolution (sprich die politischen Gegner der jeweils gerade mächtigsten Fraktion) hinzurichten. Die Radikalisierung vollzog sich im sogenannten Revolutionstribunal, gesteuert vom Wohlfahrtsausschuss der Nationalversammlung. Kurz gesagt konnte der leiseste Verdacht für einen Prozess ohne Zeugen und ohne Verteidigung sorgen, an dessen Ende der Tod stand. Zahlreiche Adelige, die nicht rechtzeitig geflohen waren (darunter Madame Dubarry, die ehemalige Mätresse von Ludwig XV.) verloren ihre Köpfe, und auch das Königspaar musste den Gang aufs Schafott antreten.
Aus dieser Zeit stammt der Gründungsmythos von Madame Tussaud: Der Nationalkonvent habe sie beauftragt und gezwungen, unmittelbar nach den Hinrichtungen Abgüsse von den abgeschlagenen Köpfen zu nehmen. So habe sie unter der Androhung, selbst verhaftet zu werden, mit den Leichen ihrer einstigen Freunde hantieren müssen.22 Ob das tatsächlich stimmt, ist allerdings fraglich. Schließlich wurden die Hingerichteten in anonymen Massengräbern bestattet, um jegliche Art von Märtyrertum und Reliquienkult auszuschließen23 – es erscheint zumindest seltsam, dass die Nationalversammlung trotzdem die Nachbildung der prominenten Köpfe beauftragt haben soll.24 Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, die allerdings ein schwächeres Licht auf die Moral von Marie Tussaud wirft. Nämlich, dass sie und Curtius ein geheimes Abkommen mit dem Scharfrichter Sanson hatten. Dieser hätte ihnen die Köpfe praktisch ausgeliehen oder die Möglichkeit verschafft, vor den Begräbnissen Abgüsse herzustellen – natürlich gegen anständige Bezahlung. Manche ziehen gar in Zweifel, dass Marie Tussaud überhaupt mit den echten Leichnamen gearbeitet hat, und letztlich werden wir das wahrscheinlich nicht zweifelsfrei klären können. Bedenkt man die morbide Stimmung der Revolutionszeit, erscheint es jedoch nicht unmöglich, dass reale Hingerichtete von ihr in Wachs verewigt wurden – ob aus Zwang oder aus makabrem Opportunismus, sei einmal dahingestellt.25
Berichterstattung und Propaganda
Es ist jedenfalls erstaunlich, wie realistisch einige der erhaltenen Köpfe aussehen (wer sich dem Anblick aussetzen möchte, kann Google bemühen). Zu der makabren Sammlung gehört nicht nur das Königspaar, sondern auch die buchstäblichen Köpfe der Revolution, allen voran Maximilien Robespierre, der seinem eigenen Terror letztlich zum Opfer fiel. Eine Figur, die möglicherweise tatsächlich von offizieller Seite beauftragt war, war die des sterbenden Jean Paul Marat. Dieser Revolutionär war im Juli 1793 von Charlotte Corday erstochen worden und somit nicht unter der Guillotine in Schande gestorben, sondern (zunächst, bevor sich das Klima wieder wandelte) als Held. Und zwar in seiner Badewanne, wo er sich wegen einer Hautkrankheit die meiste Zeit aufgehalten hatte. Dieses ikonische Bild ist sowohl in einem Wachstableau aus dem Hause Tussaud als auch auf einem Gemälde von Jacques-Louis David festgehalten. Bis heute wird spekuliert, ob das eine dem anderen als Vorlage gedient haben könnte. In jedem Fall ist es hier plausibel, dass Marie gestattet wurde, eine Totenmaske zu nehmen (wegen der sommerlichen Hitze konnte der Leichnam nicht lange ausgestellt werden), es kann aber auch sein, dass sie sich lediglich im Rahmen der kurzen Leichenschau ein Bild von seinem Gesicht und der Anordnung seiner Todesumstände machte.26
Jacques-Louis David, der zunächst als Hofmaler des Königs, dann als Revolutionär und schließlich als Auftragsmaler für Napoleon eine denkwürdige Karriere hinlegte, spielt übrigens auch im Roman von Sabine Weiss eine bedeutende Rolle, über die ich hier nicht allzu viel verraten will. Historisch kann angenommen werden, dass die Wachskünstler David zumindest kannten, da sie von ihm wohl eine Wachsfigur anfertigten und er außerdem Maries Voltaire-Figur für eine öffentliche Revolutionsfeier auslieh. Dass David sie, wie so viele andere einflussreiche Männer, geradezu umworben haben soll, kann man indes eher als fantasievolle Ausschmückung ihrerseits betrachten.28 Das gilt übrigens auch für die Mär, dass Marie und ihre Mutter Anfang 1794 für kurze Zeit doch inhaftiert wurden und die Guillotine fürchten mussten. Im Gefängnis will sie Joséphine de Beauharnais, die spätere Ehefrau Napoleons, kennengelernt haben. Dafür, dass sie überhaupt dort war, gibt es in den erhaltenen Unterlagen der Gefängnisse allerdings keine Belege.29
4. Von den Stufen des Schafotts über den Ärmelkanal
Im Juli 1794 endete die Terrorherrschaft mit dem Fall von Robespierre, und im September des selben Jahres starb Curtius. Marie wurde seine Alleinerbin und änderte die Ausstellung im Wachssalon so, dass sie dem neuen Regime und dem aufstrebenden Napoleon Bonaparte nicht in die Quere kam. Außerdem heiratete sie 1795 einen gewissen François Tussaud, einen Ingenieur, der das Geld schneller zum Fenster hinauswarf, als sie es mit dem nunmehr schleppend laufenden Kabinett verdienen konnte. Die beiden hatten drei Kinder, wovon zwei Söhne das Erwachsenenalter erreichten.30
1796 tourte ihr Mann mit einigen ausgewählten Wachsfiguren unter Verwendung von Curtius‘ Namen durch England, und 1802 nahm Marie das Angebot eines alten Bekannten namens Philipsthal an, persönlich eine Reise zu unternehmen. Sie ging allein, ohne Mann, mit ihrem älteren Sohn. Der jüngere folgte ihr später, ihren Ehemann sah sie nie wieder. Gute dreißig Jahre lang tourte sie mit einer Wanderausstellung durch Großbritannien, bevor sie sich 1835 mit einem eigenen Museum in London niederließ. 1850 starb sie und übergab die Leitung ihren Söhnen. Diesen Teil ihres Lebens beschreibt Sabine Weiss ausführlich in ihrem zweiten Roman „Das Kabinett der Wachsmalerin“.
Madame Tussaud wird zur Marke
Weshalb Großbritannien? Viele französische Adelige waren dorthin emigriert, und so hatte sie dort ein dankbares Publikum. Nun konnte sie die „alten Bekannten“ aus der Zeit vor der Revolution (deren Ähnlichkeit mit den echten Personen manch ein Besucher zu bestätigen vermochte) ebenso wie die grausigen Zeugnisse der Schreckensherrschaft ausstellen. Und auch ihre jüngsten Figuren fanden Anklang, da die Engländer dem neuen Erzfeind Napoleon sowohl in Hass als auch widerwilliger Bewunderung zugetan waren. Dass sie, wie wir bereits gesehen haben, ein ausgeprägtes Geschick im Geschichtenerzählen hatte, trug maßgeblich zu ihrem Erfolg bei.
In all ihren Ausstellungen hatte es, in Anlehnung an Curtius‘ Räuberhöhle, bereits einen separaten Raum mit den unappetitlicheren Exponaten gegeben, und daraus erwuchs im permanenten Museum die sogenannte Kammer des Schreckens, die Chamber of Horrors. Neben Massenmördern und anderen Schurken fanden hier die abgetrennten Köpfe aus Paris ihren Platz – die von Robespierre und dem Königspaar waren die prominentesten.31 Der Raum existierte in ähnlicher Form bis 2016. Ein besonders denkwürdiges Ausstellungsstück, das ebenfalls bis heute erhalten ist, war die Klinge einer Guillotine, die auf die Zeit des Terreur zurückgehen soll und als diejenige, die Marie Antoinette getötet habe, vermarktet wurde. Wessen Blut genau daran klebt, ist freilich mit keiner Quelle zu belegen. Allerdings kaufte Madame Tussauds ältester Sohn das Stück der Henkersfamilie Sanson aus Paris um 1850 ab – es ist also zumindest plausibel, dass sie tatsächlich aus den Jahren der Revolution stammt.
Madame Tussaud war eine findige Geschäftsfrau, die nicht nur separate Eintrittsgelder für diesen Teil der Ausstellung forderte, sie stellte den Besuchern auch ausführliche Ausstellungskataloge bereit, die sowohl einen werbenden als auch einen pädagogischen Zweck erfüllten. Detailliert beschrieb sie die Biographien der ausgestellten Personen, und die Tatsache, dass sie eine Augenzeugin der Revolution gewesen war, setzte sie ebenfalls sehr gekonnt ein. Da England nach wie vor eine Monarchie war, war sie gut damit beraten, sich als Royalistin darzustellen, die nicht nur gute Kontakte zum Adel in Versailles (Stichwort: enge Vertraute von Madame Élisabeth) gepflegt hatte, sondern auch selbst ein Opfer der Revolutionäre gewesen war (Stichwort: unter Zwang die Totenmasken der Hingerichteten genommen). Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. Ihre 1838 erschienenen Memoiren erscheinen in ihren Details heute nicht mehr allzu glaubhaft, zeigen aber, wie gut Marie es verstand, an die Sensationsgier der Leute zu appellieren und die damals verfügbaren Medien wirksam zu nutzen.33 Aus ihrem Kabinett ging schließlich das bis heute existente Unternehmen hervor, das unter dem Namen Madame Tussauds und mit nahezu unverändertem Konzept auf der ganzen Welt Wachsfigurenkabinette unterhält. Die täuschend echten Darstellungen der Berühmtheiten, die plötzlich zum Anfassen nah sind, faszinieren die Menschen nach wie vor. Und auch, wenn man sie von den Mythen und Phantastereien befreit, bleiben Marie Tussauds Lebensgeschichte und ihre Geschäftstüchtigkeit in hohem Maße beeindruckend.
5. Rezension
Das Buch ist zwar schon etwas älter, aber keineswegs veraltet – das Schöne an historischen Romanen ist ja, dass sie vergleichsweise zeitlos sind. Und ich weiß noch, dass „Die Wachsmalerin“ einer meiner ersten historischen Romane war, weshalb ich unbedingt hier auf dem Blog darüber schreiben wollte. Es gelingt Sabine Weiss hervorragend, die Lebensgeschichte der jungen Marie Tussaud mit den Weltereignissen, die sich in Frankreich entfalten, zu verknüpfen. Die politischen Wechsel, begleitet von Hoffnungen, aber auch von Schrecken, können anhand des alltäglichen Lebens in Paris gut nacherlebt werden, und auch die schillernden Persönlichkeiten bekommen ihren Raum, da Marie und Curtius vielen davon begegnen.
Man merkt dem Roman die tiefgehende Recherchearbeit der Autorin an, die sich sowohl an den Memoiren von Marie Tussaud als auch an moderner Forschungsliteratur orientiert hat. Viele der Aspekte, die ich hier im Artikel anspreche, hat sie einbezogen und überall dort, wo Unklarheiten herrschen oder künstlerische Freiheit angebracht war, eine plausible Entscheidung getroffen. Vielleicht ist ihre Marie ein bisschen zu gut, ein bisschen zu moralisch einwandfrei – das macht aber nichts, da es innerhalb des Romans schlüssig dargestellt ist. Man kann auf ihren Spuren definitiv nachfühlen, wie man als unbescholtener Bürger in den Mahlstrom der Revolution geraten konnte und aufpassen musste, sich selbst nicht durch kleinste Äußerungen verdächtig zu machen.
Angesichts des Titels könnte man hinter „Die Wachsmalerin“ einen der typischen historischen Frauenromane erwarten, und das trifft hier im positiven Sinne nur bedingt zu. Es geht zwar auch um die Schwierigkeiten, die Marie als Geschäftsfrau im 18. Jahrhundert meistern muss, dies wird aber nicht überhöht und wirkt sehr realistisch dargestellt. Und zu meiner großen Freude ist die Geschichte auch kein bisschen schnulzig geraten, da die Romantik überhaupt nicht im Vordergrund steht. Viel wichtiger ist das Geschehen rund um Marie, das Wachsfigurenkabinett und die Revolution.
So, wie anderen Leuten in Wachs ein Denkmal gesetzt wurde, hat Sabine Weiss für Marie Tussaud eines auf Papier geschaffen. Sie wird damit sowohl der historischen Figur und ihren Erlebnissen, als auch den historischen Hintergründen gerecht. Letztere werden auf eindrückliche Weise lebendig und die Zeit vor und während der Französischen Revolution wird bildhaft geschildert. Wer sich dafür interessiert und in dieses so faszinierende wie schreckliche Paris abtauchen will, dem sei diese Lektüre wirklich ans Herz gelegt. Marie Tussaud ist eine wunderbare Begleiterin für dieses Unterfangen, und auch die Fortsetzung ihrer Reise im zweiten Roman „Das Kabinett der Wachsmalerin“ macht großen Spaß.
Sabine Weiss: Die Wachsmalerin, erschienen im November 2008 im List Verlag, 411 Seiten. Gebraucht oder als E-Book-Neuauflage von 2016 bei dotbooks erhältlich. (Mein Beileid an alle, die das fürchterliche neue Cover kaufen müssen!)
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- Berridge, Kate: Madame Tussaud. Biographie, Berlin 2009, S. 17-18.
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- Madame Tussauds Berlin: Lady Gaga’s Wachsfigur – Das Making Of, veröffentich am 09.12.2010, https://www.youtube.com/watch?v=S3ezkKHN_TY.
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- Der mutmaßliche Leichnam von Königin Marie Antoinette beispielsweise wurde Jahre später anhand der Überreste eines Strumpfbandes identifiziert, ansonsten wäre eine Zuordnung nicht möglich gewesen.
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