Die Legende der Päpstin Johanna
Ein Mädchen, das so intelligent und begabt ist, dass es sich aus ärmlichen Verhältnissen in kirchliche Kreise hinaufarbeitet – verkleidet als Mann, denn es ist das 9. Jahrhundert nach Christus. Auf verschlungenen Wegen gelangt Johanna bis nach Rom, bis auf den Stuhl Petri. Dort muss sie sich fragen, ob sich die Liebe und das Papstamt vereinbaren lassen. So verarbeitet Donna W. Cross in ihrem Bestseller den Stoff rund um eine Legende aus dem Mittelalter. Was ist dran an dem Mythos? Hat es wirklich eine Frau auf dem Papstthron gegeben?
(! Dieser Beitrag enthält unweigerlich Spoiler, da sich Romanhandlung und Legende sehr überschneiden. >>Direkt zur Bewertung<<)
1. Eine lange Geschichte
Seit dem 14. Jahrhundert geistert die Legende der Päpstin Johanna durch Geschichtsschreibung und Literatur, und oftmals wurde sie rege diskutiert. Entweder verdammend oder vehement verteidigend, haben die Bearbeitungen einige Merkmale gemein: Eine Frau steigt in der Männerdomäne der mittelalterlichen Kirche als Johannes Anglicus ins höchste Amt der Christenheit auf, weil sie sich als Mann verkleidet und durch ihre Gelehrsamkeit und Weisheit großes Ansehen gewinnt. Schlussendlich wird ihre Identität jedoch durch die Geburt eines Kindes entlarvt, und die Geschichte endet wahlweise mit der klösterlichen Verbannung, oder (was öfter der Fall ist), mit ihrer sofortigen Steinigung durch den wütenden Mob im römischen Straßenstaub. Unnötig zu erwähnen, dass das Martyrium meist als gerechte Strafe für die sündige Täuschung aufgefasst wird, mit der diese ungebührliche Frau die Kirche zum Narren gehalten haben soll.1
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Der Detailgrad der Berichte variiert stark. Einige mittelalterliche Chroniken erwähnen eine Päpstin gewissermaßen als Anekdote, ohne weitere Hintergründe zu nennen. Im 13. Jahrhundert bekommt sie in der Chronik Martin von Troppaus erstmals einen Namen, und ihr Pontifikat wird zeitlich in der Mitte des 9. Jahrhunderts lokalisiert.3
Folgende (ungefähre) Chronologie wird von den Verteidigern von Johannas Existenz angenommen:
bis 853 oder 854: Leo IV.
853/54 bis 856: Benedikt III.
856-858: Johanna als Johannes Anglicus.
2. Widrige Kindheit
Dem Roman nach ist Johanna die Tochter eines Dorfpriesters und einer zwangsbekehrten Sächsin und wächst in Ingelheim auf. Die Mutter bringt ihr heimlich den alten, heidnischen Glauben nahe, während die christliche Erziehung des Vaters umso strenger ist. Johanna erweist sich als gescheit, aber trotz ihrer Wissbegierde darf sie nicht am Unterricht teilnehmen. Ihr älterer Bruder bringt ihr stattdessen das Lesen bei. Bei einer Begegnung mit dem griechischen Gelehrten Aeskulapios schafft es die etwas vorlaute Johanna, den Gast darauf aufmerksam zu machen, dass sie deutlich mehr auf dem Kasten hat als ihr jüngerer Bruder Johannes. Er wird zu ihrem Lehrer und bringt ihr Latein und Griechisch bei. Der Vater, der das Arrangement nur erlaubt, weil Johannes mit unterrichtet wird, macht keinen Hehl aus seiner Missbilligung, Frauenbildung ist für ihn Teufelswerk.
Als Aeskulapios irgendwann weiterzieht, gibt er Johanna eine Empfehlung für die Domschule. Der Vater schickt allerdings Johannes an ihrer Stelle. Deshalb, und weil Johanna sich immer mehr gegen ihn zu behaupten versucht, kommt es zu heftigen Konflikten. Am Ende läuft Johanna von daheim weg, trifft wieder mit ihrem Bruder zusammen, und beide beginnen ein Studium an der Domschule, wo die Schwester wieder als fähigste Schülerin heraussticht.
Auch in den gängigen Varianten der Legende werden die ungewöhnlichen Geistesgaben Johannas betont. Über die ihr zugeschriebene Herkunft ist hingegen wenig bekannt. In Mainz soll es eine Gelehrte gegeben haben, die als Vorlage für die Figur gedient haben könnte. Der Papst-Beiname Anglicus könnte unter anderem für Ingelheim oder auch England stehen.4 Letzteres ist im Roman das Herkunftsland von Johannas Vater.
3. Johanna wird erwachsen
Weil sie ein Mädchen ist, wird Johanna nicht nur von ihren Mitschülern und Lehrern angefeindet, sondern sie muss auch außerhalb der Domschule leben – bei der Familie des Grafen Gerold. Nachdem sich mit diesem (wenig überraschend) eine Liebschaft anbahnt (was dessen Ehefrau ebenso wenig überraschend missfällt), entgeht sie einer Zwangsverheiratung mit einem Schmied nur dadurch, dass die Kirche just vor der Trauung von Normannen überfallen wird, die die gesamte Hochzeitsgesellschaft (inklusive ihrem Bruder) niedermetzeln. Dessen Kleidung nimmt Johanna (die einzige der Anwesenden, die überlebt) an sich, schneidet sich die Haare ab und tritt, nunmehr als Mann verkleidet, ins Kloster Fulda ein.
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Dort macht sie sich als Heiler und Gelehrter einen Namen und erhält die Priesterweihe. Erst als sie schwer krank wird und droht, bei der medizinischen Behandlung als Frau entlarvt zu werden, muss sie erneut flüchten und zieht nach ihrer Genesung nach Rom.
4. Eine Päpstin und ihre Gegenspieler
In der ewigen Stadt ist Johanna erneut als Ärztin tätig, womit sie sich nicht nur Freunde macht. Nicht jeder an der Kurie ist von dem sonderbaren Eindringling begeistert. Besonders unbeliebt macht sich Johanna bei dem machtversessenen Anastasius, der selbst Papst werden möchte. Durch Johannas Zureden gewinnt einer seiner Gegner die Wahl. Das verschafft ihrer Karriere einen weiteren Auftrieb – und auch Gerold begegnet sie wieder. Obschon sie es ablehnt, ihre männliche Identität aufzugeben und ihn zu heiraten, bleibt er an ihrer Seite.
Auch bei der nächsten Papstwahl zieht Anastasius den Kürzeren, und die Versammlung wählt Johanna – ohne, dass sie etwas tun kann, denn sie ist bei der Wahl nicht vor Ort. Während Anastasius tobt und auf Rache sinnt, erweist sie sich als fähige Regentin, die nicht nur ihre religiösen Aufgaben gewissenhaft wahrnimmt, sondern sich auch wohltätig für die Schwächsten in der Gesellschaft einsetzt und dabei klug ihre Positionen vertritt.
4.1. Männlicher Stolz
Die Figur des Anastasius hat es zu jener Zeit wirklich gegeben. Noch unter Leo IV. hatte er Rom unerlaubterweise verlassen, und einige Briefe deuten darauf hin, dass man bereits von seinen eigenen Papstambitionen wusste. Auch gegen den Nachfolger Benedikt III. hatte er intrigiert und sich vergeblich als Gegenpapst angeboten. Erst in späteren Jahren wurde der in Ungnade Gefallene rehabilitiert.6 Er gilt als Mitautor des sogenannten Liber Pontificalis, einer aus dem Mittelalter stammenden Zusammenfassung der Papstgeschichte. Wahrscheinlich hat Anastasius Bibliothecarius in der Tat diejenigen Beiträge darin verfasst, die in seine Lebenszeit fielen.7
Einige Autoren, die für die wahre Existenz von Päpstin Johanna plädieren, vermuten, dass dieser Mann ihre Geschichte aus dem Liber Pontificalis gestrichen habe – aus Wut über seine eigene schmähliche Niederlage, die er zu allem Übel auch noch gegen eine Frau erlitten haben soll. Und gab es die nun wirklich oder nicht?
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5. Chronik einer Legende
Es gibt keine zeitgenössischen Aufzeichnungen über eine Frau auf dem Papstthron. Handschriften, die vor dem 13. Jahrhundert entstanden sind, enthalten zwar teilweise kleine Anmerkungen darüber, diese wurden jedoch alle erst später eingefügt (einmal davon abgesehen, dass auch ein Vermerk aus der «richtigen» Zeit noch kein Beweis wäre).9
5.1. Verschiedene Versionen
Nach den ersten Anekdoten formierte sich seit der bereits erwähnten Chronik Martin von Troppaus nach und nach eine ausführlichere Geschichte, die teilweise leicht abgewandelt wurde. So wurde der Ort der Geburt von Johannas Kind «identifiziert», der angeblich fortan bei päpstlichen Prozessionen gemieden wurde. In einigen Versionen stirbt Johanna bei der Geburt, in anderen wird sie an Ort und Stelle gesteinigt und in einer wiederum anderen Version wird sie lediglich abgesetzt und in ein Kloster verbannt, ihr Sohn jedoch später zum Bischof erhoben.10 Um 1261 wird angefügt, dass sie ihre Position mit der Hilfe Satans erlangt habe.11
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In Verbindung gebracht wurde die Päpstin auch mit der Existenz eines Stuhls, der zu jener Zeit bei Papsteinsetzungen verwendet worden sein soll. Er ähnelte einem Geburts- oder Toilettenstuhl und hatte ein Loch in der Mitte. Hier soll bei jedem neuen Papstanwärter «nachgefühlt» worden sein, ob er eindeutige männliche Attribute besäße. Welchen anderen Grund für so ein seltsames Ritual könnte es geben als den, dass die Kirche einst von einer verkleideten Frau «gelinkt» worden war?13 (Wir kommen auf diese Frage zurück.)
5.2. Wer hat welches Interesse an einer Päpstin?
1475 verfasste Platina Bartolomeo eine Lebensbeschreibung der Päpste und griff das Pontifikat Johannas als Nachfolger(in) Leos IV. auf. Er stellte den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte zwar selbst in Frage, viele Zeitgenossen hielten die Legende damals aber für authentisch.14 Von der Reformation an bis ins 18. Jahrhundert nutzten die Protestanten den Stoff für ihre Kritik an der katholischen Kirche. Durch eine Frau im Amt hatten ihrer Ansicht nach die Päpste nicht nur ihre Daseinsberechtigung als Nachfolger Petri verloren, sondern die Kirche hatte auch bewiesen, wie verkommen und korrupt sie war. Naheliegenderweise wiesen die Katholiken diese Version der Geschichte zurück. Erst später gelangten auch die meisten Protestanten zu der Ansicht, dass es sich wohl doch eher um eine Legende handele.15 Der katholische Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger schloss sie also mit ein, als er 1863 urteilte:
In Deutschland wird, wenigstens unter den Geschichtskundigen, nicht leicht jemand sich beigehen lassen, die Existenz der Päpstin noch ernstlich zu behaupten.16
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Diese Auffassung wird von der seriösen Wissenschaft heute weitestgehend geteilt. Ansätze, die Legende gewissermaßen zu rehabilitieren, gibt es vor allem von feministischen Historikerinnen und generell im Bereich der Frauenforschung. 1983 warf Emily Hope die Frage nach Johannas Existenz neu auf, und obwohl sie sich nicht eindeutig festlegte, hielt sie diese für möglich. Sie brachte vor, dass die Autoritäten in Byzanz, Reims und Rom 855 einvernehmlich entschieden hätten, die Spuren der Päpstin systematisch zu tilgen.18
Zwei Jahre später schloss sich Joan Morris, die zur Kirchengeschichte der Frau forschte, dieser Möglichkeit in entschiedener Weise an. Sie hält die Nikolausvita im Liber Pontificalis für die eigentliche Lebensgeschichte Johannas, die man später unterschlagen habe. Für die Tilgung soll eben jener Anastasius Bibliothecarius verantwortlich gewesen sein, der nicht nur seine unrühmliche Niederlage als Gegenpapst, sondern auch Johannas Existenz aus der Geschichte tilgen wollte. Zudem will Morris in einigen Briefen von Johannes VIII. Indizien dafür gefunden haben, dass diese von einer Frau stammen. Weder dies noch eine Verbindung zu Anastasius Bibliothecarius lässt sich jedoch eindeutig beweisen, ohne anderen Quellen und Datierungsfragen zu widersprechen.19 Außerdem führte Morris an, dass Papst Nikolaus I. mit dem Attribut «aspectu pulcher», also sinngemäß «von schönem Aussehen» bedacht worden war, was nicht zu einem Mann passe. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass «Schönheit» durchaus auch traditionell in der Charakterisierung unbestreitbar männlicher Päpste vorkomme.20
Für den gerne angeführten und zugegebenermaßen bizarren Stuhl mit Loch gibt es ebenfalls alternative Erklärungen. Entweder hatte er, will man ihn als Toilettenstuhl sehen, dem Papst bei der Einsetzung Bescheidenheit lehren sollen, der als einfacher Mensch von Gott in ein heiliges Amt erhoben worden war. Die andere Möglichkeit, will man das Objekt als Gebärstuhl deuten, wäre eine symbolische Verknüpfung des Papstes mit der «Mutter Kirche», was den weiblichen Touch erklären würde.21
6. Verschwörungstheorie?
Donna W. Cross, die Autorin von «Die Päpstin», hält all diese Erklärungsversuche für irreführende Ausflüchte. Bereits am Beginn ihres ausführlichen Nachworts legt sie fest, dass Johanna und ihr Pontifikat zwischen dem 9. und dem 17. Jahrhundert «allgemein bekannt und […] als historische Wahrheit akzeptiert» wurden, was mindestens eine Übertreibung ist. Ab der Reformation habe die katholische Kirche dann einen regelrechten «Vernichtungsfeldzug» geführt und viel Energie aufgebracht, um alle Hinweise zu eliminieren. Dieses Vorgehen vergleicht sie mit dem von diktatorischen Regimes der heutigen Zeit. Nun gibt es rund um die katholische Kirche und den Vatikan zwar viele Verschwörungstheorien (an denen ich großen Spaß habe, es sei nur auf die Thriller von Dan Brown verwiesen), und sicherlich gab und gibt es tatsächlich Maßnahmen, um unbequeme Details ein wenig zu korrigieren oder zumindest in Zweifel zu ziehen. Dass zu einer derart unruhigen Zeit wie dem Frühmittelalter jedoch über das ganze christliche Europa hinweg die Autoritäten an einem Strang gezogen haben sollen, um ein Ereignis aus sämtlichen Quellen zu streichen, halte ich für sehr weit hergeholt.
Wir wissen, wie einfach es im Internetzeitalter ist, Fake News und Unwahrheiten zu verbreiten und so aus dem Nichts einen Skandal aus dem Boden zu stampfen. Wie viel einfacher muss das im Mittelalter gewesen sein, wo die wenigsten Leute Zugang zu unabhängigen Informationsquellen hatten (oder diese schlicht nicht existierten) – wenn man aufs Hörensagen angewiesen ist und wenig «Weltwissen» hat, ist man doch viel eher geneigt, eine reißerische Story zu glauben.
So argumentiert auch Herbers, dass die Legende nicht unbedingt eine konkrete Vorlage benötigte. Der Sittenverfall, der der römischen Kirche zu vielen Zeiten vorgeworfen wurde, und das problematische Frauenbild des Mittelalters waren genug, um eine Päpstin Johanna in die Welt zu setzen.22 Die Lücken und die unsicheren Datierungen, die man rund um das 9. Jahrhundert vorfindet, deuten weniger darauf hin, dass hier die Existenz einer Frau auf dem Stuhl Petri vertuscht wurde. Vielmehr boten diese Lücken erst den Raum, genau dort eine Legende einzuarbeiten, die aus römischen Lokalsagen, fehlgedeuteten Symbolen und kirchenpolitischen Interessen,23 aber auch der Sensationsgier der Menschen gespeist wurde.
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Es stimmt zwar, dass es auch in den für das «schwache Geschlecht» eher weniger rosigen Zeiten immer Frauen gab, die aus ihren traditionellen Rollenmustern ausbrachen und sich in Männerdomänen vorwagten, wo sie oftmals aufgrund ihrer Fähigkeiten sogar anerkannt (und gleichzeitig oft verachtet) wurden. Auch Frauen, die sich als Männer verkleideten, gab es viele, man denke nur an Johanna von Orléans. Ein Papst jedoch hatte ständig Bedienstete um sich und kaum Intimsphäre – die Maskerade in diesem Amt aufrecht zu erhalten, erscheint mir persönlich unmöglich.
Heute versuchen also größtenteils Feministinnen im Bereich der Frauenforschung, aus der Legende eine Tatsache zu machen, und damit tun sie ihrem Fach und ihrem Anliegen keinen Gefallen. Besonders, wenn es sich um romantisierende, populärwissenschaftliche oder völlig fiktionale Bearbeitungen handelt. Als Historiker sollte man sich, auch wenn die Versuchung manchmal stark ist, nicht für die Variante «zu schön, um wahr zu sein» entscheiden, sondern die Indizien abwägen, um die plausibelste Annäherung an die Wahrheit zu treffen.
Horst Fuhrmann, der in seinem Standardwerk über die Päpste der Legende um Johanna nicht viel mehr als eine Fußnote widmet, urteilt passend:
Gegenwärtig dürften etwa ein Dutzend Romane über das tragische Leben der Päpstin Johanna auf dem Markt sein; historisch haben sie den Wert von Asterix und Obelix.25
6.1. Einseitig argumentiert
Nun muss das ja an sich noch nicht negativ sein, ich finde Asterix und Obelix ziemlich unterhaltsam. Und es ist ja völlig normal, dass sich Autoren bei historischen Romanen viele Freiheiten nehmen, bei unsicheren Fakten eine Auswahl treffen oder gleich selbst welche erfinden. In meinem Artikel zum Nachwort habe ich bereits erörtert, weshalb ich finde, dass der Leser darüber zumindest grob auch informiert werden sollte. Donna W. Cross tritt dort als Negativbeispiel auf.
Dass es ein einziges Exemplar des Liber Pontificalis gibt, in dem Johanna mit einem Eintrag aus späterer Zeit(!) vermerkt ist, sieht sie eher als positives Indiz: ein späterer Geschichtsschreiber habe sich wohl moralisch zur Korrektur jener Akte berufen gefühlt, nachdem seine Vorgänger allesamt ideologisch geblendet bei der Vertuschung mitgemacht hätten. Woher jener moralbewusste Chronist, x Jahrhunderte später, diese höchst verlässliche Information überhaupt gehabt haben soll, lässt sie offen.
Auch bei anderen strittigen Teilen der Legendenüberlieferung lässt Cross den Gegenargumenten keinen Raum. «In der Kathedrale von Siena stand ihre [Johannas] Statue unbestritten und unangefochten neben denen anderer Päpste – bis zum Jahr 1601, als sie […] plötzlich in ein Standbild Papst Zacharias’ ‹umgewandelt› wurde.» So stellt sie etwas als Tatsache hin, was höchst umstritten ist. Die Statue könnte jeden darstellen, und für eine Umwidmung in der frühen Neuzeit gibt es keine ausreichenden Beweise.
1413 wurde Jan Hus, der ein Jahrhundert vor Luther die Kirche schwer anklagte, wegen Ketzerei zum Tode verurteilt. Seine Aussage, die Päpste seien schon öfters Irrtümern aufgesessen, wie damals, als eine Frau ins Amt gewählt wurde, sei als einzige nicht in die Verurteilung mit eingeflossen. Die Prozessakte, die darüber Auskunft gibt, zeigt laut Cross, dass die Kirche der Geschichte nichts entgegenzusetzen hatte und sieht diese als «stichhaltiges historisches Beweisstück». Natürlich, denn wenige Quellen sind noch glaubhafter als die Akten in Ketzerprozessen… Dass ausgerechnet die These zu Johanna nicht weiter kommentiert wurde, kann umgekehrt auch damit begründet werden, dass die Kirchenleute ein so absurdes Gerücht gar nicht erst weiter schüren wollten.
Mein Problem ist nicht, dass Donna W. Cross mit «Die Päpstin» einen Roman über eine Legende erzählt, und nicht einmal, dass sie grundsätzlich für einen wahren Kern darin eintritt. Ich finde es schwierig, dass sie im Nachwort, welches ja idealerweise eine erklärende Funktion hat, vollkommen willkürlich und selektiv mit den historischen Quellen umgeht. Alle Anhaltspunkte, die die Legende widerlegen können, findet sie nicht glaubhaft oder wenig schlüssig. Wo es ihr jedoch nutzt, beruft sie sich auf Augenzeugenberichte, Erzählungen und andere Texte, deren Wahrheitsgehalt ebenso unsicher ist. Viele Einzelaspekte rund um die Päpstinnen-Legende werden von Cross so abgehandelt und in eine einzige Richtung undifferenziert interpretiert, und dabei nicht mit Verweisen auf die entsprechende Quelle ausgestattet. Zwar gibt sie zu, wegen der vielen Unsicherheiten einen Roman und keine historische Abhandlung geschrieben zu haben. Dennoch erweckt sie in ihrem ganzen Nachwort den Eindruck, dass es sich bei der Existenz Johannas sowie weiten Teilen ihrer Lebensgeschichte um durchweg belastbare Tatsachen handelt. Da sie sich in den Kontext der wissenschaftlichen Diskussion begeben hat, muss sie sich auch an deren Standards messen lassen, und damit ist das gesamte Begleitmaterial leider höchst tendenziös.
Mir ist klar, dass der Zusatz «nach einer wahren Geschichte» als Marketing- und Erzählinstrument wahre Wunder wirken kann26, in diesem Fall ist es aber schlicht und ergreifend kein zutreffendes Attribut. Bereits im Klappentext wird salbungsvoll darauf hingewiesen, dass «[Johannas] Existenz bis ins 17. Jahrhundert allgemein bekannt war und erst dann aus den Manuskripten des Vatikans entfernt wurde», direkt gefolgt von einer Rezension aus der Brigitte(!), wonach es sich bei der Geschichte um ein «spannendes und historisch glaubwürdiges Beispiel einer unglaublichen Emanzipationsgeschichte» handele. Das halte ich für eine riskante Irreführung der Leser, insbesondere derjenigen, die mit der Geschichtswissenschaft nichts am Hut haben und die wackelige Argumentation einfach glauben. Es hätte dem Roman unter diesen Umständen besser getan, wenn Donna W. Cross das gesamte Nachwort einfach weggelassen hätte.
7. Rezension
Nachdem meine Meinung über die Aufmachung und das Nachwort deutlich geworden sein dürfte, will ich doch noch einmal versuchen, eine halbwegs neutrale Rezension zum Roman selbst zu formulieren.
Eigentlich ist «Die Päpstin» ein recht typischer Historienwälzer. Eine starke Frau im Vordergrund, die sich mit den barbarischen Widrigkeiten ihrer Zeit auseinandersetzen muss, eine Liebschaft mit einem Mann, der als einziger «anders», also «modern» ist, Blut, Gemetzel, finsteres Mittelalter und ein paar Lichtblicke. Das ist so weit keine schlechte Mischung.
Wir begleiten Johanna fast ihr ganzes Leben hindurch, und auch wenn ihre außergewöhnliche Intelligenz in jungen Jahren etwas unglaubwürdig daherkommen mag, wird sie schnell zur Sympathieträgerin. Graf Gerold ist ganz klar der Don Juan der Geschichte, der das Ritterideal des Hochmittelalters vorwegnimmt. Teilweise werden überlieferte historische Figuren, wie der Fuldaer Abt Rabanus Maurus, eingearbeitet. Die Nebenfiguren sind grob in Johannas Förderer und Johannas Gegner einzuteilen. Hier kann man den Vorwurf machen, dass die Charaktere ein wenig zu einseitig gezeichnet sind, bis auf Johannas Mutter und ihren Bruder. Ihr Vater und der Clan um Anastasius sind die dezidierten Bösewichte.
Ansonsten hat der Roman durchaus spannende Elemente und ist unterhaltsam zu lesen, die Sprache und die Dialoge sind recht lebendig. Einige Wendungen in der Handlung wirken allerdings unglaubwürdig und erzwungen, zu oft treten irgendwelche Deus-Ex-Machina-Ereignisse ein, um Johanna im letzten Moment eben doch noch zu retten.
Ich muss dazu sagen, dass ich das Buch erstmals mit vielleicht 12 oder 13 Jahren gelesen habe, und damals war ich ziemlich begeistert davon. Jetzt, beim zweiten Lesen, fielen mir viel mehr Aspekte auf, die ich kritikwürdig oder nicht besonders gelungen finde, sowohl erzählerisch als auch im Hinblick auf Cross’ undifferenzierte Beweisdreherei im Anhang.
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Ist «Die Päpstin» also eine empfehlenswerte Lektüre? Das kommt – wie bei den meisten Romanen – ganz darauf an, welche Ansprüche man daran stellt. Während die Geschichte an sich nicht schlecht gemacht ist, wird jemand, der sich halbwegs mit dem Mittelalter auskennt, möglicherweise das Weite suchen, oder zumindest bisweilen die Hände über den Kopf zusammenschlagen angesichts der oft stereotypischen Bilder. Wem der historische Wert nicht so wichtig ist, der wird Spaß haben, sofern er über einige technische Schwächen hinwegsehen kann und mit leichterer Unterhaltung zufrieden ist. Wer sich mit dem Mittelalter überhaupt nicht auskennt, der wird sicherlich beeindruckt sein und Vergnügen an der Geschichte finden – dann sei ihm jedoch ans Herz gelegt, das Nachwort mit allergrößter Vorsicht zu genießen.
Donna W. Cross: Die Päpstin, erschienen 1996 bei Aufbau, 566 Seiten.
- Vgl. Kirchhoff, Katharina: Untersuchungen zu Bearbeitungen des Päpstin-Johanna-Stoffes unter besonderer Berücksichtigung der englischsprachigen Literaturen und Autorinnen, Konstanz 2002, online verfügbar unter: http://kops.uni-konstanz.de/handle/123456789/13895, Zugriff am 19.09.2017.
- Illustration einer Ausgabe von Giovanni Boccaccios „De mulieribus claris“ („Von berühmten Frauen“), ca. 1450, http://digitalgallery.nypl.org/nypldigital/id?427531, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20483732, Zugriff am 28.09.2017.
- Herbers, Klaus: Die Päpstin Johanna. Ein kritischer Forschungsbericht, in: Historisches Jahrbuch 108 (1988), S. 174-194, hier S. 187-189.
- Ebd., S. 192-193.
- Ansicht der Basilika in Fulda, Ende 16. Jhd, aus der Cosmographia von Sebastian Münster, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fulda_3_1600.jpg#/media/File:Fulda_3_1600.jpg, Zugriff am 15.10.2017.
- Wolter, H.: Art. «Anastasius Bibliothecarius, lat. Schriftsteller, Gegenpapst, in: Lexikon des Mittelalters Vol. 1, Sp. 573-574.
- Zimmermann, H.: Art. «Liber Pontificalis», in: Lexikon des Mittelalters Vol. 5, Sp. 1946-1947.
- Exemplar des Liber Pontificalis von Albert de Sternberg, 1376, by Yelkrokoyade, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7343894, Zugriff am 15.10.2017.
- Herbers, Päpstin Johanna, S. 186.
- Ebd., S. 187-189.
- Arnim, Achim von: Werke und Briefwechsel Band 10. Die Päpstin Johanna, herausgegeben von Johannes Barth, Tübingen 2006, S. 572.
- Jakob Kallenberg (1500-1565), Scan von Jastrow aus Sher Tinsley, Barbara: “Pope Joan Polemic in Early Modern France: The Use and Disabuse of Myth”, in: Sixteenth Century Journal, Vol.18, No.3 (Autumn, 1987), S. 384., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2656935, Zugriff am 28.09.2017.
- Vgl. Herbers, Päpstin Johanna, S. 189-190.
- Ebd., S. 174.
- Ebd., S. 174-175.
- Döllinger, Ignaz von: Die Papstfabeln des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte, München 1863, zitiert nach Herbers, Päpstin Johanna, S. 175.
- Jan Enenkel, Weltchronik, ca. 1450, UB Heidelberg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10124977, Zugriff am 28.09.2017.
- Herbers, Päpstin Johanna, S. 175.
- Vgl. ebd., S. 177-185.
- Herbers, Klaus: Zu frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber pontificialis und in römischen hagiographischen Texten, in: Laudage, Johannes (Hg.): Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 165-192., hier S. 176.
- Herbers, Päpstin Johanna, S. 189-190.
- Ebd., S. 193.
- Ebd., S. 194.
- Hartmann Schedel, von: MDZ München, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7457282, Zugriff am 28.09.2017.
- Fuhrmann, Horst: Die Päpste: Von Petrus zu Benedikt XVI (Beck’sche Reihe 1590), München 32005, S. 303.
- So geschehen auch bei der Buchverfilmung mit Johanna Wokalek: Die Päpstin, Sönke Wortmann, 2009, 148 min.
- Pinturicchio: Die Heiligsprechung Katherina von Sienas durch Papst Pius II, um 1500, Web Gallery of Art, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pinturicchio_-_No._9_-_The_Canonization_of_Catherine_of_Siena_by_Pope_Pius_II_-_WGA17805.jpg#/media/File:Pinturicchio_-_No._9_-_The_Canonization_of_Catherine_of_Siena_by_Pope_Pius_II_-_WGA17805.jpg, Zugriff am 15.10.2017 (Ausschnitt).
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