Ausschnitt des Covers von Ivonne Hübners Roman "Elbmöwen".

Biedermeier-Zwänge | Ivonne Hübner: Elbmöwen *

Von Künstlern und Konservativen in Dresden

* Dieses Buch wurde mir als Rezensionsexemplar vom Verlag zur Verfügung gestellt. Der Themenschwerpunkt meines Artikels und der Inhalt meiner Rezension bleiben davon unberührt.

Ihr könnt Taten verfolgen, nicht aber Überzeugungen, das Denken muß frei sein.1
(George Sand)

Balthasar, der aus einer Weberfamilie kommt, geht als Stipendiat an die renommierte Dresdner Kunstakademie. Nicht nur gegen die strengen Benimmvorschriften, sondern auch die Herablässigkeit so mancher aristokratischer Kommilitonen muss er sich fortan durchsetzen. Dass er als eine Art Hausmeister gegen Kost und Logis in einem Bordell wohnt, verbessert seinen Ruf nicht gerade. Halt findet er bei seinem Lernpartner und Saufkumpan Nikolaus, dem Sohn des Dekans, für den er bald zärtliche Gefühle entwickelt. Aber auch dessen Schwester Antonia wird immer interessanter für ihn. Sie ist gefangen im goldenen Käfig und spürt zunehmend die Schranken, die die Gesellschaft ihr auferlegt. Bald finden sich die Protagonisten in einem Gefühlswirrwar wieder, welches sie dazu zwingt, die konservative Ordnung des Biedermeiers in Frage zu stellen.

1. Die Zeit des Biedermeiers

Der Begriff „Biedermeier“ bezeichnet eine Epoche zwischen 1815 und 1848. Damit liegt sie zwischen dem Wiener Kongress, bei dem die durch Napoleon durcheinandergebrachte fürstliche Ordnung weitgehend wiederhergestellt wurde (Restauration) und der Märzrevolution bzw. Deutschen Revolution, die zum ersten Versuch führte, einen einheitlichen deutschen Nationalstaat aufzubauen. Betrachtet man die politischen und ökonomischen Spannungen, die diese Revolution verursachten, wird die Epoche auch als Vormärz bezeichnet.

Darstellung des Hambacher Festes 1832.

Das Hambacher Fest 1832, womit sich die Opposition politisch manifestierte und den Vormärz einläutete, der 1848/49 in der Märzrevolution mündete.

(Bildquelle2)

Die Biedermeierzeit steht, ganz im Gegensatz zu den Problemen von Kleinstaaterei und Massenverarmung, für den Anschein einer bescheidenen, konservativen Idylle, in der man zurückgezogen und häuslich lebte – bieder eben.3 Die Bezeichnung entwickelte sich aus dem Namen einer fiktiven Figur, Gottlieb Biedermaier, dessen Name als Autor zahlreicher Gedichte auftaucht, die die spießbürgerliche Kleingeistigkeit der Zeit auf die Schippe nehmen.4

Neben der Eingrenzung eines bestimmten Kunst- und Einrichtungsstils steht das Biedermeier auch für ein neu entstandenes Bildungsbürgertum, welches nicht zuletzt das Ideal des Familienlebens nachhaltig prägte.

1.1. Familienbild und Häuslichkeit im Biedermeier

Hatte manch einer gehofft, nach dem Sieg über Napoleon bekäme die Bevölkerung im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr politisches Mitspracherecht, wurden diese frommen Wünsche bald enttäuscht. Wohl deshalb wurde der Rückzug in die unpolitische Privatheit der Familie zum biedermeierlichen Ideal. So beschreibt etwa Ingrid Schraub in ihrer Abhandlung ein typisches Wohnzimmer der Zeit:

Mittelpunkt des bürgerlichen Wohnzimmers wurde das Kanapee [eine Art Liegesofa]. Hier ruhte der Herr des Hauses nach dem Essen, hier entspannte sich die Gattin von den Sorgen des häuslichen Alltags bei der Lektüre eines Groschenromans, hier platziere man den sonntäglichen Besuch.5

Ein Wohnzimmer im Biedermeierstil.

Ein Beispiel für den Einrichtungsstil des Biedemeiers.

(Bildquelle6)

Diese Besinnung auf gemeinsame Familienzeit war im Biedermeier ebenfalls eher neu, das Bürgertum grenzte sich damit vom Adel ab, wo die Kinder ihre Eltern oft selten zu Gesicht bekamen und vom Personal betreut wurden. So wurde auch die Hausmusik zu einer beliebten gemeinschaftlichen Beschäftigung:

Eine weitere Attraktion des Wohnzimmers war das Klavier. Ein solches Instrument stand in jedem Hause, das etwas auf sich hielt. Grundkenntnisse in Klavierspielen galten als unbedingtes Muss der Erziehung, weshalb die jungen Mädchen – gleichgültig ob begabt oder nicht – Klavierstunden zu nehmen hatten. Die Vorführung der Künste am Piano oder die Gesangsdarbietung waren die Höhepunkte familiärer Geselligkeit.7

Wer so unmusikalisch war wie ich, hatte daran sicherlich seine helle Freude … Dennoch wurde durch diese bildungsbürgerliche Entwicklung natürlich einer viel breiteren Bevölkerungsschicht der Zugang zu Kunst und Kultur ermöglicht.

Familienbild der Biedermeierzeit.

Ein für die Biedermeierzeit typisches Familienportrait.

(Bildquelle8)

1.2. Das Florenz an der Elbe

Bereits im 18. Jahrhundert war Dresden unter Kurfürst August dem Starken zu einer barocken Blüte gelangt, die der Stadt später die spöttisch-liebevolle Bezeichnung ‚Elbflorenz‘ einbrachte. Darin kommt nicht nur die Bewunderung für die reichen Kunstschätze, sondern auch für die zahlreichen Bauwerke zum Ausdruck. Passenderweise unterhalten die beiden Städte seit 1978 eine Partnerschaft.

Panorama von Dresden im 18. Jahrhundert.

Der sogenannte „Canaletto-Blick“, 1748 gemalt. Die Stadtansicht ähnelt stark der Perspektive, aus der Florenz sehr oft abgebildet wird.

(Bildquelle9)

Panorama von Florenz

Zum Vergleich: Florenz am Arno.

(Bildquelle10)

Barocke Bauwerke

Viele der prunkvollen Gebäude, wie etwa die Frauenkirche oder der Zwinger, wurden im Zweiten Weltkrieg massiv beschädigt und mühsam wieder restauriert und aufgebaut. In die Zeit der Romanhandlung fällt etwa die Errichtung der Semperoper. Gottfried Semper war ein wichtiger Architekt für Dresden, und sein Opernhaus musste er gleich zweimal bauen, da die erste Version schon 1869 abbrannte.

Sachsen als Verfassungsmonarchie

Sachsen war ab 1806 ein Königreich, das von Friedrich August I. regiert wurde. Nachdem sein Territorium durch die Kriege gegen Napoleon schwer gebeutelt worden war, musste er in die Teilung seines Landes einwilligen, wodurch einige Teile an Schlesien und Preußen fielen. Unter seinem Bruder und Nachfolger kam es als Folge der Pariser Julirevolution 1831 zur ersten Sächsischen Verfassung, die den Herrscher von seinen Ministern und einer Ständeversammlung abhängig machte, ihm aber weiterhin große Entscheidungsgewalt ließ. Trotzdem bedeutete die neue Ordnung auch eine relative Stabilität, die Dresden mit ihrem blühenden Kulturbetrieb zu einer attraktiven Stadt machte. In diese Zeit fallen die Geschicke der Romanfiguren in „Elbmöwen“.

Portrait von Friedrich August II. von Sachsen.

Friedrich August II. von Sachsen, der zur Zeit der Romanhandlung König war.

(Bildquelle11)

2. Die Protagonisten und ihre Vorbilder

In ihrem Nachwort erklärt die Autorin, dass sie für alle Romanfiguren von historischen Personen inspiriert wurde. Die Protagonisten basieren jedoch nur sehr lose auf diesen ‚Vorlagen‘ und sind nicht als biographische Verarbeitung zu verstehen.

3. Die Kunstakademie

Balthasar Weber bekommt als Stipendiat der Dresdner Kunstakademie einen Lernpartner zugeteilt. Nikolaus Amundus ist der Sohn des Dekans, und die beiden müssen sich anstrengen, um angesichts des strengen Reglements der Einrichtung nicht am laufenden Band Verweise einzuheimsen. Sie müssen viel leisten, und so manche Hausaufgabe oder Strafarbeit kostet Zeit, die sie lieber in der Kneipe um die Ecke verbracht hätten.

Auch die Dozenten an der Dresdner Kunstakademie, bei denen Balthasar und Nikolaus studieren, sind laut Ivonne Hübner realen Personen nachempfunden. Tatsächlich herrschte an der Akademie wohl eine fast militärische Ernsthaftigkeit. Die Akademie war 1764 gegründet worden, galt als renommierte Adresse für angehende Künstler und ist bis heute eine der ältesten Kunsthochschulen im deutschen Sprachraum.12

"Der Wanderer über dem Nebelmeer", berühmtes Gemälde von Caspar David Friedrich.

Das berühmte Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich, der als einer der wichtigsten Maler der Romantik gilt und an der Dresdner Akademie lehrte.

(Bildquelle13)

Tatsächlich scheint den Studenten viel abverlangt worden zu sein, sodass die Autorin die Verhältnisse vermutlich authentisch dargestellt hat. Nach eigener Aussage lagen ihr zudem die Stundenpläne der Jahre 1827-1836 als Recherchegrundlage vor.

Balthasar kann sich nicht immer gut in die Verhältnisse an der Hochschule einfinden. Der Standesunterschied zwischen ihm, dem Damastweber, und den vielen gut situierten Bürger- und Adelssöhnen ist oft spürbar. Eigentlich studiert er dort nur, um ein neuerdings benötigtes Zertifikat für seine Arbeit als Mustermaler in der familieneigenen Damastwerkstatt zu erhalten. Trotz des Stipendiums kann er sich keinen üppigen Lebensstil leisten. Der Zufall spült ihn schließlich an den Rand der Stadt, wo er in einem Bordell ein Zimmer bekommt. Er bekocht die ‚Mädchen‘, die dort arbeiten, und erledigt Botengänge für die Hausherrin. Mit Friederike, einer der lebensfrohen, resoluten Dirnen, schließt er Freundschaft. Seine romantische Zuneigung aber gilt bald einer anderen, offensichtlich unerreichbaren jungen Frau: Antonia, der Tochter des Dekans seiner Akademie.

4. Kein Platz für Frauen

Antonia Amundus hilft ihrem Vater bei der Arbeit in der Kunstakademie – sie erfüllt einige Aufgaben einer Sekretärin und darf ansonsten nur die Blumen gießen. Seit dem Tod der Mutter ist sie für die Haushaltsführung der Familie zuständig und vollauf damit beschäftigt, die Dienstboten zu organisieren und sich darüber hinaus mit Geschlechtsgenossinnen zum Töpferkurs oder anderen sozialen Aktivitäten zu treffen. Ihr Vater scheint gar nicht mitzubekommen, dass Antonia einen wachen Geist besitzt und in dem ihr verwehrten Kunststudium mehr Talent beweisen könnte als ihr Bruder. Ihre vorrangige Aufgabe ist eindeutig: einen vermögenden Ehemann zu finden, um die zerrütteten Finanzen ihres Elternhauses in Ordnung zu bringen.

Die Forderung, Mädchen und Frauen besser zu bilden, kam im 19. Jahrhundert erst langsam auf. Die Kinder der Armen mussten ohnehin schon früh ihr Brot verdienen, und den bessergestellten Töchtern brachte man nur das bei, was für ihre spätere Rolle als Ehefrau, Mutter und Haushaltsvorsteherin als nötig erachtet wurde. Ein gewisser Bildungsgrad war dabei auch im Biedemeier durchaus gewünscht, schließlich sollte die Frau angenehme Konversation machen und sowohl ihren Ehemann als auch Gäste gut unterhalten können. Kenntnisse in Französisch oder Literatur waren deshalb keine Seltenheit. Was nicht erwartet wurde: dass die Frau sich darüber hinaus irgendwie selbst Gedanken machte.

Familienportrait aus der Biedermeierzeit.

Diese Familienbild zeigt, wie sich die tugendhaften Frauen zu benehmen hatten: musizierend, handarbeitend, den Männern zur Seite stehend.

(Bildquelle14)

Künstlerische Betätigung gehörte, wie bei der bereits angesprochenen Musik, zwar zum guten Ton, aber in Abgrenzung von den Männern. Frauenmalkurs am Nachmittag ja, Kunststudium nein. Überhaupt hatten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nur wenige einzelne Frauen mit Sondergenehmigung die Möglichkeit erhalten, eine Universität zu besuchen. Erst nach 1860 wurde in der Schweiz die erste Frau im deutschsprachigen Raum ordentlich immatrikuliert. In Deutschland wurden Frauen erst 1899 als Gasthörerinnen ohne Prüfungserlaubnis(!) zugelassen. Höchstens Lehrerinnen oder Gouvernanten hatten sie zuvor werden können.15

Die Ehe als Ideal

Derlei wurde eher als hinderlich für eine Ehe angesehen (welcher Mann findet schon eine Frau attraktiv, die sich zu viele eigene Gedanken macht …). Und das, nämlich zu heiraten und Mutter zu werden, war weiterhin das höchste Ideal, das eine Frau anstreben konnte. Für Frauen von Antonias Stand hieß das, wie auch in den Jahrhunderten zuvor, dass ihr der Ehemann mehr oder weniger vorgegeben wurde. Bei gesellschaftlichen Anlässen, oder später sogar in der Zeitung, wurde von den Eltern sondiert, wer geeignet sein könnte.16

Da Antonia in der Kunstakademie ein und ausgeht, fällt sie natürlich dort auch den Studenten auf. Und ein besonders von sich überzeugtes Exemplar findet Gefallen an ihr. Erdmann von Stukken, ein Aristokrat, dessen Vermögen und Status ein Segen für die Familie Amundus wäre. Und das, obwohl sie sich mit Balthasar Weber sehr viel besser versteht.

Wer keine üppige Mitgift vorweisen konnte, musste froh sein, eine gute Partie machen zu können. Dem Heiratsantrag ging, insbesondere bei studentischen Bräutigamen, oft eine lange Zeit der Werbung voraus, während der man sich kennenlernen sollte, meist im Beisein einer Anstandsdame.

Dass Antonia den narzisstischen Charakter Erdmanns verabscheut, kann sie ihm schlecht ins Gesicht sagen, und ihr Bruder Nikolaus, von dem sie sich entfremdet hat, ist keine Hilfe. Er sieht in Erdmanns Heiratswunsch die Lösung für alle Probleme, die er durch seine Verschwendungssucht erst verursacht hat. So hat Antonia das zweifelhafte Vergnügen, jeden Montag mit Erdmann einen Spaziergang zu machen und sich von ihm ihn ein Teehaus ausführen zu lassen. Das monatelange hilflose Wissen, dass der Schnösel ihr irgendwann einen Antrag machen wird, zermürbt nicht nur die Protagonistin, die irgendwann nur noch versucht, sich mit ihrer ausweglosen Lage abzufinden – vorerst.

Im Vergleich zu früheren Zeiten war es vielleicht ein Fortschritt, dass sich die Eheleute vor der Hochzeit immerhin kennenlernten, gerade für die Frauen gab es oft aber wenig Möglichkeiten, eine reale Entscheidung zu treffen. Wie Antonia im Roman konnten viele die Werber nicht einfach aus persönlichen Gründen heraus ablehnen, sondern waren den Wünschen ihrer Familie verpflichtet.

Geschlechtervormundschaft

Bis in die Biedermeierzeit hinein mussten Frauen einen männlichen Vormund haben – waren sie ledig, war das in der Regel Vater oder Bruder, in der Ehe natürlich der Gatte. Offiziell wurde die cura sexus in Sachsen schon 1825 aufgehoben, bestand in der Praxis aber weiter. Nur, weil die Frauen auf dem Papier mehr Entscheidungsfreiheit zugeschrieben bekamen, heißt das noch lange nicht, dass sie ihre Rechte auch durchsetzen konnten.

So geht es auch Antonia. Auf ihren Hinweis, dass die Geschlechtervormundschaft abgeschafft sei, erwidert ihr Bruder Nikolaus nur „nicht in diesem Haus“ – es steht außer Frage, dass sie sich hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung seinen und den väterlichen Anweisungen zu fügen hat. Balthasar wiederum muss machtlos mit ansehen, wie sie von Erdmann von Stukken umworben wird und der Situation nicht entfliehen kann. Letztlich ist es fast paradox, dass die Prostituierte Friederike, in deren Lage man sich nun auch nicht unbedingt wünscht, bis zu einem gewissen Grad mehr Freiheiten genießt als die gut situierte Antonia.

5. Männerliebe

Doch nicht nur, dass es sich bei Balthasars Gefühlen für Antonia um eine unstandesgemäße und damit wenig aussichtsreiche Zuneigung handelt, ist problematisch. Denn noch bevor er sie näher kennenlernt, bandelt er mit ihrem Bruder und seinem Kommilitonen Nikolaus an – selbstredend im Geheimen.

5.1. Universitäre Freiheiten

Das Milieu, in dem sich diese homoerotische Annäherung abspielt, wird nicht ohne Zufall dasjenige der, bei allen bürokratischen Zwängen, freigeistigen Kunstakademie sein. Das Ideal eines freien, gebildeten Bürgers fand an den Universitäten dieser Zeit besonderen Niederschlag. Damals wie heute bildete die Studienzeit, für die man oft von Zuhause wegzog, einen wichtigen Teil des Erwachsenwerdens. Im Gegensatz zu den oft viel konservativeren Gymnasien genossen die Studenten tatsächlich viele Freiheiten, die etwa in den damals aufgekommenen Burschenschaften bisweilen auch recht wild ausgelebt wurden. Die durchaus vorhandenen politischen und universitären Regeln und Restriktionen wurden entsprechend oft umgangen. Je stärker die Studentenschaft als Wirtschaftsfaktor für die jeweilige Stadt wahrgenommen wurde, desto eher war die Obrigkeit bereit, die Unterminierung der bürgerliche-konservativen Ordnung hinzunehmen.17

Studentenleben

Darstellung des Corps Gottingen, 1837.

Das Corps ‚Brunsviga Göttingen‘ in einer Darstellung von 1837.

(Bildquelle18)

Diesem Standesbewusstsein entsprach auch die überraschend lockere Sexualmoral einiger Studenten. Zotige Witze waren an der Tagesordnung, und offensichtlich zog es viele Studenten, wie auch im Roman beschrieben, ins Bordell. ‚Ehrbare‘ und höhergestellte Frauen wie die Protagonistin Antonia eigneten sich natürlich nicht für solche Vergnügungen, sondern konnten (offiziell) nur mittels Heirat erobert werden. Andere Studenten wiederum verzichteten auf romantische Abenteuer und erfüllten die moralischen Anforderungen des Bürgertums, das keine außerehelichen körperlichen Beziehungen vorsah. Auch in vielen Burschenschaften galt ein Keuschheitsgebot.19

Intensive Freundschaften – manchmal auch mehr

Neben Burschenschaften und größeren Gruppierungen bildeten sich, soweit sich das aus der Überlieferung rekonstruieren lässt, oft sehr tiefgründige Zweierfreundschaften. Dem Zeitgeist entsprechend befassten sich viele Studenten mit den Idealen von Charakterstärke, Freundschaft und Zusammenhalt, und die Freundschaft zu einem gleichgeschlechtlichen Altersgenossen diente vielfach als Projektionsfläche für diese Ideale, bisweilen in sehr schwärmerischer Form. Daran wiederum sollte nach den Erwartungen der jungen Männer die eigene Persönlichkeit wachsen. Renate Müller zeigt in ihrer Forschung auf, dass die oft überschwänglichen Zuneigungsbekundungen für viele Studenten eine Art Ersatz für die (noch) unerfüllte Sexualität waren, der Pathos in den Männerfreundschaften also die fehlenden Liebesbeziehungen kompensierte.20 Es ist natürlich heute kaum mehr feststellbar, wie groß dabei der Anteil derer war, die wirklich homosexuell waren.

5.2. Homosexualität im 19. Jahrhundert

Ein offenes Ausleben einer homosexuellen Liebe war die längste Zeit gesellschaftlich und kirchlich sanktioniert. Gleichzeitig stieg in freigeistigen, aufgeklärten und künstlerischen Kreisen seit dem 18. Jahrhundert die Akzeptanz dafür, während auch die Strafmaße von seiten der Obrigkeit reduziert wurden. Insbesondere durch die Beschäftigung mit dem antiken Griechenland während der Klassik entstand ein Bewusstsein dafür, dass es Liebesbeziehungen von Mann zu Mann (und auch von Frau zu Frau, was aber weniger Beachtung fand) gegeben hatte, und da die Antike tendenziell idealisiert wurde, setzte man sich damit auseinander. (Inwiefern das Alter der damals Beteiligten eine Rolle spielte und wie die griechische ‚Knabenliebe‘ aus heutiger Sicht ethisch-moralisch zu bewerten ist, lasse ich an dieser Stelle außer Acht.)21 Man darf jedoch nicht annehmen, dass die Mehrheit der Bevölkerung abseits der intellektuellen Kreise dem Phänomen mit Toleranz im modernen Sinne begegnet wäre.

Antike griechische Vase, die Zeus und Ganymed zeigt.

Diese antike griechische Vase zeigt den Gott Zeus mit seinem (jugendlichen) Liebhaber Ganymed.

(Bildquelle22)

Goethe und die ‚griechische Liebe‘

Bereits Goethe setzte sich intensiv damit auseinander (entsprechende Neigungen seinerseits werden oft aufgegriffen, sind aber nicht beweisbar) und äußerte sich 1830 über die ‚griechische Liebe‘ mit den Worten, diese sei menschlich und Teil der Natur – womit er eine weitaus fortschrittlichere Haltung aufwies als viele seiner Zeitgenossen.23 Denn die teilweise verblüffend offene Sexualmoral der Aristokratie im 18. Jahrhundert wurde im 19. eher konterkariert durch die bereits erwähnte konservative Haltung des Bürgertums, das sich von den Ausschweifungen des Adels ohnehin abgrenzen wollte.

Der Dandy

Foto des Schriftstellers Oscar Wilde aus dem Jahr 1882.

Oscar Wilde, 1882.

(Bildquelle24)

So waren es wieder die Freigeister, die sich von der vorherrschenden Prüderie abhoben und das ‚Dandytum‘ zelebrierten und damit den Grundstein für den Ausdruck queerer Erscheinungsformen legten. Ein prominentes Beispiel ist der irische Schriftsteller Oscar Wilde, der noch 1895 wegen seiner offenen Homosexualität zu ‚Zuchthaus‘ und Zwangsarbeit verurteilt wurde.25 Sie war also weiterhin gesellschaftlich geächtet, wenngleich es seit dem 18. Jahrhundert zumindest ein gewisses Milieu gab, in dem abweichende sexuelle Orientierungen bereits akzeptiert wurden. Die Zweierfreundschaften an den Universitäten des Biedermeiers, ebenso wie die Toleranz der künstlerischen Kreise, scheinen sowohl den Raum für eine spielerische Auseinandersetzung mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen geboten zu haben, als auch die Möglichkeit, sich über eine etwaige tatsächliche Homosexualität klar zu werden.

Ideal und Karikatur

Das wird meiner Meinung nach in „Elbmöwen“ sehr gut aufgegriffen. Nikolaus Amundus scheint sich tatsächlich für Frauen in keinster Weise zu interessieren und wäre mit modernen Begriffen als homosexuell einzustufen. Balthasar hingegen fühlt sich zwar zu ihm hingezogen, für ihn ist es aber doch eher eine Neigung, während er gleichzeitig Gefühle für eine Frau entwickelt. Von ihm aus ist es also eher als eine Übersteigerung der tiefen Freundschaft zu einem Kommilitonen zu sehen.

6. Rezension

Cover des Romans "Elbmöwen" von Ivonne Hübner.

Ivonne Hübner: Elbmöwen, mitteldeutscher verlag.

Es gelingt Ivonne Hübner gut, die Sorgen und Nöte der Protagonisten in einer sehr konservativen Zeit einzufangen. Mit geschliffenen Formulierungen sorgt sie für ein Miterleben der einzelnen Charaktere, die durchweg mit Tiefe dargestellt sind – die sympathischen wie die weniger sympathischen. Ihre Redeweise macht dabei ihre jeweilige soziale Stellung deutlich. Mir hat es sehr gut gefallen, so verschiedene Milieus kennenzulernen: Balthasar als Handwerker, den Dandy Nikolaus, die im goldenen Käfig gefangene Antonia und Friederike, die Prostituierte. Keiner von ihnen ist in seiner Rolle richtig glücklich, bei allen Vorteilen, die sie jeweils (auch) bringt.

Die Autorin zeigt den Lesern ein dichtes Panorama des Biedermeiers in Dresden. Sie hat dabei gut recherchiert und nennt im Nachwort sowohl die Personen, die als Inspiration gedient haben, als auch einige Textquellen.

Besonders bemerkenswert finde ich, dass der Roman auch eine nicht-heterosexuelle Liebesgeschichte zum (Neben-)Thema hat. Das findet man aufgrund der Restriktionen, die Homosexuelle (und andere, die von der konservativen Norm abwichen) zu allen Zeiten in der Gesellschaft erfahren haben, natürlich selten in historischen Romanen. Mit dem freigeistigen Künstlermilieu der 1840er hat Ivonne Hübner gerade den richtigen Moment erwischt, um diesen Teil der Geschichte glaubhaft zu schildern. Für die Liberalen an der Akademie und im Bordell ist die Männerliebe schon recht normal, in der bürgerlichen Gesellschaft umso weniger denkbar.

Trotz der unaufgeregten, eher ruhigen Erzählweise habe ich, besonders am Ende, richtig mitgefiebert und den Charakteren die Daumen gedrückt. Das Szenario, dass eine gutgestellte Frau einen reichen Schnösel heiraten soll und dabei jemanden unter ihrem gesellschaftlichen Stand bevorzugt, ist keineswegs neu. Der Autorin gelingt es aber, die Ungerechtigkeit der ganzen Angelegenheit so spürbar zu machen, dass eine große emotionale Verbundenheit zu den Protagonisten entsteht. Bei aller Dramatik streut sie hier und da eine gute Portion Witz und Situationskomik ein, sodass die Lektüre ein ziemliches Vergnügen war. Dass beim Korrektorat der ein oder andere Schreibfehler übersehen wurde, bleibt dabei verzeihlich.

Ich bedanke mich beim Mitteldeutschen Verlag für das Freiexemplar. Schön, dass ich so auf das Buch aufmerksam gemacht wurde – der Klappentext allein hätte mich wahrscheinlich nicht ganz überzeugt. Da liegt der Fokus meiner Ansicht nach zu sehr auf dem Freudenhaus, das als Ort der geheimen Handlungen und der aufrührerischen Ideen zwar seinen Platz im Roman hat, aber nun auch nicht der wichtigste Bestandteil ist. Natürlich ist die erzählte Dreiecks-, beziehungsweise fast schon Vierecksgeschichte der Handlungsmotor, aber das Biedermeier und die Gesellschaftsordnung der Zeit werden doch vielschichtiger und viel weniger seicht porträtiert, als ich es mir aufgrund der Beschreibung zunächst vorgestellt hatte. So wurde ich rundum positiv überrascht von „Elbmöwen“ und empfehle den elegant erzählten Roman uneingeschränkt.

(Im Dryas-Verlag ist mit „Die Tuchhändlerin“ ein Vorgängerband zu „Elbmöwen“ erschienen. Diesen kenne ich nicht und meiner Ansicht nach kann „Elbmöwen“ völlig alleinstehend gelesen werden.)

Ivonne Hübner: Elbmöwen, erschienen 2018 im Mitteldeutschen Verlag, 387 Seiten.

>>Link zum Verlag<<


 

  1. http://www.dichterinnen.de/Sand/, Zugriff am 03.07.2018.
  2. Erhard Joseph Brenzinger: Der Zug zum Hambacher Schloss 1932, kolorierte Lithographie, Scan aus: Christoph Friedrich/ Bertold Frhr. von Haller/ Andreas Jakob: Erlanger Stadtlexikon, Nürnberg 2002, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10885357, Zugriff am 09.07.2018.
  3. Müller, Renate: Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier (Lebensformen Bd. 14), Berlin/Hamburg 1999, S. 2.
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  16. Schraub, Ingrid: Zwischen Salon und Mädchenkammer. Biedermeier bis Kaiserzeit (Frauenleben), Hamburg 1992, S. 14-18.
  17. Müller, Renate: Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier (Lebensformen Bd. 14), Berlin/Hamburg 1999, S. 137-143.
  18. Unbekannt: Corps Brunsviga Göttingen, Lithographie von 1837, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5629408, Zugriff am 10.07.2018.
  19. Müller, Renate: Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier (Lebensformen Bd. 14), Berlin/Hamburg 1999, S. 235-250.
  20. Müller, Renate: Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier (Lebensformen Bd. 14), Berlin/Hamburg 1999, S. 251-260.
  21. Wilson, W. Daniel: Goethe Männer Knaben. Ansichten zur ‚Homosexualität‘, Berlin 2012, S. 14-22.
  22. Sog. Eucharides-Maler: Zeus und Ganymed bei einem Trankopfer, um 490 v. Chr., Metropolitan Museum of Art, New York, Foto von David Liam Moran, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2847602, Zugriff am 10.07.2018.
  23. Wilson, W. Daniel: Goethe Männer Knaben. Ansichten zur ‚Homosexualität‘, Berlin 2012, S. 354-355.
  24. Oscar Wilde, Foto von Napoleon Sarony, 1882, Library of Congress, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4582554, Zugriff am 10.07.2018.
  25. Vgl. Janes, Dominic: Oscar Wilde prefigured. Queer Fashioning and British Caricature, 1750-1900, Chicago/London 2016.

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